: Hanns-Josef Ortheil
: Das Element des Elephanten Wie mein Schreiben begann
: Sammlung Luchterhand
: 9783641127299
: 1
: CHF 8.90
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: Erzählende Literatur
: German
: 224
: DRM
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Hanns-Jos f Ortheil beschreibt in seinem autobiographischen Großessay, weswegen ihn die Sprache von Kindheit an faszinierte und wie er zu einem der bedeutendsten deutschen Autoren der mittleren Generation geworden ist. Mit acht Jahren wurde die erste Geschichte von ihm veröffentlicht, und seither ist er, ähnlich wie es Jean-Paul Sartre in seinem berühmten Buch „Die Wörter“ für sich beschreibt, zum Schreiben auf die denkbar lustvollste Weise verurteilt. „Das Element des Elephanten“ ist das „überaus einleuchtende Selbstporträt eines großen Schriftstellers“ (Die Zeit).

Hanns-Josef Ortheil wurde 1951 in Köln geboren. Er ist Schriftsteller, Pianist und Professor für Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus an der Universität Hildesheim. Seit vielen Jahren gehört er zu den beliebtesten und meistgelesenen deutschen Autoren der Gegenwart. Sein Werk wurde mit vielen Preisen ausgezeichnet, darunter dem Thomas-Mann-Preis, dem Nicolas-Born-Preis, dem Stefan-Andres-Preis und dem Hannelore-Greve-Literaturprei . Seine Romane wurden in über zwanzig Sprachen übersetzt.

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Ich wurde am 5. November 1951 in Köln geboren. Das Haus, in dem meine Eltern damals wohnten und das wir kaum zwei Jahre später durch einen Umzug nach Wuppertal verließen, habe ich erst vor kurzem mit wachem Blick gesehen. Es liegt an einem großen, ovalen, von schönen Mietshäusern eingekreisten Platz im Norden Kölns, dem Stadtteil Nippes. Man hat es nicht weit zum Rhein, die Gegend ist voller traditionsreicher Kneipen...

Dat es he en schöne Jäjend, jäjenüvver dem Rhing, un et Kind es e leev Kind, e lecker Stümpche, wat nie am Knaatsche es, ne Klötsch vunnem Kind, ne Freßklötsch, ne richtije Klotzkopp, wat dä widder kallt...

 

Köln war nicht die Heimatstadt meiner Eltern, aber es war die Stadt, in der sie sich zeitlebens am wohlsten fühlten. Mein Vater hatte nach dem Krieg, den er als Soldat miterlebt hatte, in Köln eine Anstellung bei der Bundesbahndirektion gefunden, von Berufwar er Geodät oder (altmodisch)»Landvermesser«. In den Diensten der Bahn vermaß er Strecken, berechnete Tunneldurchbrüche, entwarf Brücken, er hatte eine Leidenschaft fürs Detail, fürs Exakte, für die saubere Zeichnung, für Millimeterpapier, Zirkelkästen und gut gespitzte Bleistifte. Wenn ich ihn zeichnen müßte, sähe man ihn auf einem drehbaren, arm- und lehnlosen Schemel, vor einer großen weißen Tischplatte, die von einer tief hängenden Lampe angestrahlt wird. Vater beugt den Oberkörperüber die Platte, die Zunge wischt nervösüber die ausgeformte, dicke Unterlippe, der Zirkel kreist auf dem hauchdünnen Papier, das sich an beiden Seiten aufrollt. Es ist still, niemand stört ihn, es ist die Stunde der Geometrie.

 

Meine Eltern kamen aus dem Siegerland, aus einem kleinen Ort an der Sieg, kaum fünfzig Kilometeröstlich von Köln. Siegerland, sage ich, aber ich müßte eigentlich sagen: nördlicher Westerwald, denn meine Eltern, besonders aber mein Vater, der mit seinen zehn Geschwistern auf einem großen Hof aufgewachsen war, verstanden sich als Westerwälder. Westerwälder – das sind die schwarz gekleideten, in sich gekehrten und landtreuen Menschen auf den Fotografien August Sanders, Bauern auf dem Sonntagsspaziergang zur Kirche, Frauen mit dunklen Kopftüchern, gezeichnet von vielen Geburten, Kinder,ängstlich und maulfaul, in einer dichten Traube um die auf zwei Stühlen thronenden Eltern versammelt. So existieren sie in meinen inneren Bildern als Gestalten der Vorzeit, als Gestalten der archaischen Gesten, des Heumachens, Brotbackens und Fischens, Gestalten der Jahreszeiten, fromm, katholisch, die Männer oft mit breiter Stirn, störrisch, unbeirrbar, eine Sippe, die daheim blieb, jahrhundertelang, und nie aufgestört wurde von Eindringlingen oder Fremden...

Ech sän dehem, mir gohnön det Feld, mir sän zäh wieön Witt, ojoijo, dat es en Räkel, die es e Quissel un die annere, die es e Zammel, ojoijo, mir bürschte de Kleirer, mir han Durscht, nä, wat is dat dann, wat sull dat heesen, wüßt ech nur, wat dat wär, nä, nä, ojoijo...

 

Die Eltern meiner Mutter waren Kaufleute und hatten, wie es hieß,»ein großes Geschäft«, anfangs Spedition, dann Baustoffe, Kohlen,Öl, und vor allem alles, was die Bauern brauchten, die mit schweinebeladenen Traktoren vorfuhren, umde Säucher zu wiegen. Die Eltern meines Vaters waren Bauern, der Hof lag an der Nister, einem Seitenflüßchen der Sieg, zum Hof gehörte eine Gastwirtschaft, die gibt es heute noch, und drinnen, hinter der Theke, da steht mein Vetter, der Johannes heißt wie ich, und verschränkt die Arme vor der Brust:na, wiegeht et?

 

Zwischen dem Hofmeines Vaters und dem Elternhaus meiner Mutter, das im alten Teil des Ortes, nahe der Kirche, steht, sind meine Eltern, seit sie sich kennengelernt hatten, hin und her geeilt, meist zu Fuß oder auf Fahrrädern. Meine Mutter hat in der Gastwirtschaft ausgeholfen, und mein Vater saß sonntags am Mittagstisch seiner Schwiegereltern, dunkel gekleidet, der einzige Studierte weit und breit, seiner Passion nach aber ein Jäger, ein Forstmensch, witterungsabhängig, naturbesessen, einer, der die Natur geordnet sehen wollte, Bilder von der Natur, Tier- und Pflanzenbilder.

 

Sooft es ging, fuhren wir von Köln und später von Wuppertal aus in den Westerwald, natürlich immer mit der Bahn, die berüchtigte, gewundene Siegstrecke, von Köln aus auf Siegen zu, wo Rubens zur Welt gekommen ist und wo in der hoch gelegenen Burg noch einige seiner Bilder hängen, so weit weg und fern, so fremd all dieser Umgebung ringsum, daß man sofort weiß, er hat nie in Siegen gelebt.

Da, wo meine Eltern ihre Jugend verbracht haben, haben sie sich in den fünfziger Jahren ein Haus gebaut, gleich weit entfernt von beiden Elternhäusern. Lange Zeit war das Haus vermietet, solange wir, wie es hieß,unterwegs waren,unterwegs, in der Fremde, in der Welt, draußen, weitweg. Die Fremde, das war Berlin, war Polen, war Wuppertal, später Mainz.

Doch Anfang der siebziger Jahre haben meine Eltern sich wieder dort niedergelassen, von wo sie 1939, im Jahr des Kriegsbeginns,in die Welt