Nein, es stimmt nicht, dass die junge Frau, die der Maler da in dieser einen Minute mit seinem Blick eingefangen hat, für alle Zeiten auf dem Gemälde sitzen bleiben wird.
Das Bild, Öl auf Leinwand, ist ziemlich groß, so etwa eins fünfzig mal ein Meter, es zeigt uns einen Garten im sommerlichen Schweden, wir schreiben das Jahr1894. Die junge Frau heißt Lovisa Johansson, wie wir auf dem kleinen Schild am goldenen Rahmen lesen können.
Durch die Blätter der Birke fällt Sonnenlicht, es flirrt in Lovisas braunem Haar. Sie trägt ein weißes Kleid, die Schatten in der Tiefe seiner Falten sind fast blau. Sie hält ein Buch in der Hand, sie blickt uns nicht an, liest konzentriert, scheint in die Geschichte versunken.
Aber nur noch für ein paar Sekunden.
Auf einmal hört man Birkenblätter rauschen, Gelächter dringt aus einem offen stehenden Küchenfenster, und irgendwo zerschellt Porzellan. Es riecht plötzlich nach Kaffee.
Unter unseren Füßen ist kein Museumsfußboden mehr, sondern eine Wiese. Und wir sehen, wie Lovisa sich aufrichtet, ihre Lektüre zusammenklappt und noch ein paar Sekunden lang versonnen ihr Buch betrachtet. Die Buchstaben, die auf dem dunkelroten Leder in Goldprägung leuchten, können wir nicht entziffern. Ein Sonnenstrahl fällt auf ihre schmalen Hände, Lovisa sieht sich um, steht auf und geht langsam zu dem Sommerhaus, das halb versteckt hinter den Birken liegt.
* * *
Rote Welle. Na wunderbar.
Carlotta trommelte mit den Fingern auf das Lenkrad. Es war klar, sie würde zu spät kommen. Es war nicht klar, ob der Stockholmer Gast ihr das übelnehmen würde.
Der Schwede an sich ist ein höflicher Mensch, unddieser Schwede war auch noch die ganze Nacht durchgefahren, mit einem wertvollen Gemälde im Kofferraum, um es ihr heute als Leihgabe zu überreichen.
Und dann kam Vizemuseumschefin Carlotta Goldkorn zu spät. Nicht gut. Ziemlich unhöflich.
Vor ihr hatte sich einen längere Schlange gebildet, ein Getränkelastwagen blockierte die rechte Spur. Immerhin konnte man von hier aus schon das Museum sehen. In zwei Kilometern Entfernung, oben auf dem Fichtelberg, thronten die kleine Ritterburg und der später angebaute Glaspalast.
Oh nein. Da vorne blinkte ein gelbes Warnlicht der Fichtelbacher Straßenverkehrswacht.
Carlottas Blick fiel auf einen kleinen, rothaarigen Jungen, der auf dem Bürgersteig mit hängendem Kopf bergauf trottete und dabei sein Fahrrad schob. Beide Reifen waren platt. »Retet die Waale« stand auf seinem Schulranzen, mit blauem Filzschreiber, die schwere Tasche zog seine Schultern herunter.
Ungeachtet der wütenden Huperei lenkte Carlotta ihr Auto an den Straßenrand, blieb stehen und öffnete das Fenster der Beifahrerseite.
»Ja, Leo, was ist denn passiert?«
Leo blickte auf, sein Gesicht erhellte sich bei Carlottas Anblick. Er zog die Nase hoch. »In der Schule haben sie das gemacht. Maximilian und seine Freunde, glaub ich. Ich hab’s aber nicht gesehen. Ich will ins Museum zu Mama, ich kann heute im Café essen.«
»Komm, mach dein Rad da vor der Apotheke fest und steig ein. Die Mama kann das doch heute Abend mit dem Lieferwagen mitnehmen.«
Leo nickte, lächelte zaghaft, schloss sein Rad ab, zog erleichtert den schweren Ranzen vom Rücken und krabbelte auf den Rücksitz. Carlotta fädelte sich wieder in den Verkehr ein, warf einen schnellen Blick auf die Uhr. Jetzt war sie zehn Minuten über die Zeit.
»Onkel Henri fragt mich öfter, wann du wieder in sein Atelier zum