: Robert Walser
: Reto Sorg, Lucas Marco Gisi
: Der kleine Tierpark
: Insel Verlag
: 9783458736240
: 1
: CHF 8.00
:
: Hauptwerk vor 1945
: German
: 160
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Robert Walsers wunderbare Tiergeschichten sind ebenso eigenartig wie einzigartig. Seine Katzen und Mäuschen, Spatzen und Stachelschweine sind mal tierisch ernst, mal überraschend menschlich. Walser zeigt sich fasziniert von ihrer durch Zähmung erlangten Dienstfertigkeit ebenso wie von ihrem unerreichbaren Sich-selbst-Sein. In der »Andersartigkeit« des Tiers erkennen wir nicht zuletzt das Verhältnis des Individuums zu Kultur und Gesellschaft, etwa wenn ein Schriftsteller sich »zum Affen macht« oder »für die Katz schreibt«. Der vorliegende Band versammelt Robert Walsers unzählige Geschichten über Tiere erstmals zu einem kleinen »Bestiarium«.

<p>Robert Walser wurde am 15. April 1878 in Biel geboren. Er starb am 25. Dezember 1956 auf einem Spaziergang im Schnee. Heute ist Walser durch seine Romane, seine feuilletonistische Prosa, seine Gedichte und seine Dramolette als einer der bedeutendsten Autoren des 20. Jahrhunderts anerkannt. Nach seiner Schulzeit absolvierte er eine Banklehre und arbeitete als Commis in verschiedenen Banken und Versicherungen in Zürich. Seine ersten Gedichte, die 1898 erschienen, ließen ihn rasch zu einem Geheimtip werden und verschafften ihm den Zugang zu literarischen Kreisen. Nach Erscheinen seines ersten Buches<em>Fritz Kochers Aufsätze</em> folgte er 1905 seinem Bruder Karl nach Berlin, der dort als Maler und Bühnenbildner den Durchbruch erzielt hatte. In rascher Folge publizierte Walser nun seine drei Romane<em>Geschwister Tanner</em> (1907),<em>Der Gehülfe</em> (1908) und<em>Jakob von Gunten</em> (1909). Infolge einer psychischen Krise geriet Walser Anfang 1929 gegen seinen Willen in die Psychiatrie, deren Rahmen er nie mehr verlassen konnte. 1933 von der Berner Klinik Waldau nach Herisau verlegt, gab er das Schreiben vollständig auf und lebte dort noch 24 Jahre als vergessener anonymer Patient. Sein Werk erscheint seit 1978 im Suhrkamp Verlag, seit 2018 auch in der neuen kommentierten Berner Ausgabe.</p>

DER SCHWAN


 

In einer kleinen Stadt mit reizender, naturreicher Umgebung wächst ein schöner, zarter Knabe unter liebevoller Obhut auf, den jedermann, wenn er ihn an der Hand der Mutter, des Vaters oder des Erziehers spazieren sieht, liebkosen möchte. Man nimmt an, daß er vermöglicher, gebildeter Eltern Kind sei, daß er eine fast nur zu feine, zu sorgsame und zu zarte Erziehung erhalte und daß Spielsachen aller Art, kindlicher Komfort, hübsche Kleider ihn umgeben. Mit seinen weichen blonden Locken spielen die Hände zärtlich gesinnter Erwachsener, und es mag sein, daß Tanten den jungen Burschen verhätscheln. Hinter dem von den Eltern bewohnten Landhaus breitet sich, so darf man sich wohl einbilden, ein schöner alter Garten aus, worin sich unter hochherabhängenden Zweigen undÄsten ein kleiner Teich befindet, den zwei bis drei Schwäne auf die anmutigste Art beleben. Natürlich liebt der Knabe diese Schwäne, und er gehtöfters an den ziervollen Rand des Wassers, um kindlichüber die vermeintliche Tiefe desselben nachzudenken. Sein eigenes Sinnen und Erwägen kommt dem Kinde bezaubernd vor, und indem er sich diesem Zauberüberläßt, ist er bereits reifer als er selber ahnt, undälter als er scheint. Das schwärzlich-grünliche Wasser macht ihm den Eindruck des Unergründlichen, und er empfindet einen ebenso unbegreiflichen wie angenehmen und zarten Schauder davor. Er lockt die Schwäne mit irgend etwas Eßbarem in seine Nähe. Vorübergehend ist zu erwähnen, daß der Maler seine Figuren in das Kostüm vom Jahr 1830 eingekleidet hat, wodurch die Bilderfolge etwas besonders Graziöses erhält. Dunkel und fern fühlt und sieht der Knabe die Schönheit der Schwäne, er bemerkt und sieht aber immerhin mehr nur den Gegenstand als dessen Schönheit. Jenen sieht und diese fühlt er mehr. Ebenso muß ihm die Schönheit der Landschaft eigentlich noch fremd sein. Wohl genießt er das Land und den elterlichen Garten, aber wohl einstweilen nur auf Knabenart. Sein Auge sieht Verstecke und Plätze, Licht und Schatten. Er geht zur Schule und befreundet sich mit gleichaltrigen Kameraden. Er wird nach und nach anders, geht nicht mehr zu den Schwänen; andere Dinge locken und fesseln ihn, er kritisiert, liest Bücher, lernt fremde Sprachen. Er treibt sich als jugendlicher Elegant in den Gassen der Stadt herum, lernt heimlich das Treiben und Leben in dunkeln Kneipen kennen, die die aufblühende Phantasie seltsam reizen. Er mißt seine Körperkräfte in Spiel und Händel an denen der Mitschüler, und bei Gelegenheit lernt er Sympathie und Abneigung voneinander unterscheiden. In der Schule hat er Erfolg, er zeigt sich jedoch mehr talentiert als fleißig, verläßt sich großenteils auf seinen guten lebhaften Kopf, findet an einer gewissen großzügigen Liederlichkeit Geschmack, glaubt den Fleiß als hausbackeneÄngstlichkeit verächtlich machen zu dürfen. Elterliche Einwendungen zu mißachten, hält er für keineswegs unschön und unklug,Übermut und Waghalsigkeit kommen ihm als schön, vorsichtige Aufführung und emsiges Streben als das Gegenteil vom Schönen vor.

KATZENTHEATER


Ein Schlafzimmer


Es ist Mitternacht vorüber. In einem Bett schläft Muschi, ein kohlrabenschwarzes Kätzchen, in schneeweißen, spitzenbehangenen Kissen. Wie das kleine Kinder zu tun pflegen, schläft Muschi mit offenem Mündchen. Eine ihrer Pfoten hat sie unter den Kopf gelegt, während die andereüber den Bettrand herunterhängt. Es sind niedliche kleine Pfoten. Im Zimmer ist es zauberhaft still, und es entströmt ihm ein eigener Duft,ähnlich dem Duft einer Kinderküche, in der gerade etwas ganz Köstlich-Süßes gebacken und gebraten wird. Auch etwas Prinzeßhaftes duftet daraus hervor in den Zuschauerraum. Auf einem Nachttischchen brennt ein winziges Nachtlicht, einer züngelnden Kirschblüteähnlich, und verbreitet einen milden, rötlichen Schein gegen das Bett zu. Muschi träumt, man merkt das, denn sie zuckt manchmal mit der Pfote und blinzelt ein wenig mit den Augendeckeln. Die Fenster des Zimmers sind von entzückend saubern Gardinen und Umhängen dicht, wie von Schnee, umrahmt. Auch das hat etwas entschieden Kleinkinderhaftes und Blütenartiges. Tisch, Kommode, Sessel und Kleiderschrank sind angenehm und absolut ungezwungen im Raum verteilt. Muschis Kleider liegen neben der Schlafenden auf einem Stuhl. Auf einmal geht eine der Gardinen auseinander, und ein Räuber, das heißt, ein großer Kater als Räuberhauptmann verkleidet, steigt geräuschlos und, sich vorsichtig nach allen Seiten umwendend, zum Fenster hinein. Er steckt in Stulpenstiefeln, hat einen hohen, spitzen Hut auf dem Kopf und Waffen im Gürtel. Sein Bart und seine wilden Augen sind schrecklich, und seine Bewegungen sind die eines in der Tat ausstudierten Spießgesellen. Er tritt an das Bett heran, ergreift die kleine, ahnungslose Muschi beim Schopf, zieht sie zu den Kissen heraus, schlägt sie in ein Tuch und tut dann das zappelnde Ding, das schreien will und nicht kann, in einen dafür bereitgehaltenen großen Sack hinein. Zufriedenes Grinsen und Schnurren. Das Orchester spielt eine bald wehklagende, bald leise und spitzbubenhaft triumphierende Melodie. Drinnen im anderen Zimmer ruft eine Stimme: Muschi, Muschi! Das klingt gesungen und sehr gedehnt. Der Räuber dreht sich schurkengewandt auf den Schuhabsätzen um und macht sich zum Fenster hinaus. Im nächsten Augenblick geht eine Tür auf, und herein tritt im weiten Nachtkleid die Amme der Muschi. Eine Art Frau Wangel ins Katzliche hinüber transponiert. Sie bleibt erstarrt stehen und will miauen. Es ist aber schließlich schon eineältere Katze, und der Schreck lähmt ihr sowohl die Glieder als die Stimme. Sie sinkt unter kläglichen Gebärden in Ohnmacht. Dann besinnt sie sich und läuft laut miauend, eigentlich beinahe schon mehr menschlich schreiend, zum Zimmer hinaus.