: Marci Shore
: Der Geschmack von Asche Das Nachleben des Totalitarismus in Osteuropa
: Verlag C.H.Beck
: 9783406654565
: 1
: CHF 15.20
:
: Politik
: German
: 376
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Die Jahrzehnte kommunistischer Herrschaft in den osteuropäischen Ländern haben in praktisch jeder Familie Fragen aufgeworfen, die nach dem Fall des Eisernen Vorhangs irgendwie beantwortet werden müssen. Diese 'posttraumatischen' Störungen in Ländern und Gesellschaften, die nach ihrer Identität suchen, sind das Thema dieses Buchs. Es ist eine Reise in die Seelenlandschaften der Menschen und die Summe einer zwanzigjährigen Beschäftigung. Marci Shore spürt den Geistern des Kommunismus im gegenwärtigen Osteuropa nach, vor allem in Polen, Tschechien, der Slowakei und Rumänien. Sie interessiert sich für das, was Geschichte aus den Menschen und ihren Leben gemacht hat. Sie hat Menschen in Prag, Krakau, Warschau, Vilnius, Kiew, Moskau, Bukarest besucht, aber auch in der Provinz und in den jeweiligen Enklaven in New York, Jerusalem und Wien. Das Buch ist von hoher literarischer Qualität, geradezu betörend schön geschrieben. Es atmet eine tiefe Humanität, und man spürt, dass die Ich-Erzählerin eine ungewöhnlich kluge und sympathische Frau ist; sie wirkt wie ein Medium zwischen den porträtierten Menschen und dem Leser, durch das hindurch man sich sehr gut in die jeweilige Situation hineinversetzen kann, von der sie berichtet.

Marci Shore, 1972 geboren, ist Historikerin und lehrt als Professorin an der Yale University. Für ihr erstes Buch, 'Caviar and Ashes. A Warsaw Generation's Life and Death in Marxism, 1918-1968', wurde sie vielfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem 'Fraenkel Prize in Contemporary History' und dem 'National Jewish Book Award'. Marci Shore ist verheiratet mit Timothy Snyder ('Bloodlands').

Wahrheit


Im Februar 1990 besuchte Václav Havel, der neue Präsident der postkommunistischen Tschechoslowakei, Washington, um dort seine erste Rede zu halten.

«Das Bewusstsein bedingt das Sein», erklärte Havel dem amerikanischen Kongress.«Und nicht andersherum, wie die Marxisten behaupten.»

Keiner wusste, was das bedeuten sollte, aber es klang gut.

«Wenn ich so reden könnte», sagte ein Journalist,«dann würde ich für den Posten Gottes kandidieren.»

Im Juni 1993 fuhr ich zu Recherchen für meine Abschlussarbeit nach Prag. Die Frauen trugen kleine Hunde in großen Handtaschen herum, und in der U-Bahn fuhren die Rolltreppen beunruhigend schnell. Neben dem U-Bahnhof Hradčany plärrten aus den Lautsprechern vor einem Café Dolly Parton und Kenny Rogers«Islands in the Stream», dann kam B.J. Thomas, der«Raindrops Keep Falling on My Head» sang. Ein paar Meter weiter führten kopfsteingepflasterte Stufen zu der Burg hoch.

Die Prager Burg thronte auf einem Hügelüber der Moldau, die mächtigen, nicht sehr hohen Gebäude waren in blassen Rosa- und Grautönen gestrichen undöffneten sich zu großen Innenhöfen. Beherrscht wurde dieser Ort nicht von dem leuchtenden Neoklassizismus des Neuen Königlichen Palastes, sondern der dunklen Neogotik des Veitsdoms mit seinen Buntglasfenstern und Wasserspeiern. Das Burgareal stellte eine eigene, verzauberte Welt dar, mit gewundenen kleinen Straßen, von denen eine zu dem Goldenen Gässchen aus der Frührenaissance führte, gesäumt von himmelblauen, sonnengelben und tiefroten Häusern, winzigen, wie für Elfen gebauten Behausungen. Es war ein märchenhafter Ort. Jenseits der Burgmauern aber, auf den Straßen, war die Tschechoslowakei keine Märchenwelt– zumindest nicht nur. Das Prag des Sommers 1993 war eine Stadt, in der dieüberkommenen Regeln ihre Geltung verloren hatten. Und noch wusste niemand, wie die neuen Regeln aussehen würden. Das Ende des Kommunismus hatte einem nackten Manchesterkapitalismus Platz gemacht. Der freie Markt wurde buchstäblich als frei von Verantwortung und nahezu frei von Beschränkungen begriffen, ein Selbstbedienungsmarkt.

Ich lernte Martina kennen, eine Sozialpsychologin in den Dreißigern. Da sie einige Zeit an amerikanischen Universitäten verbracht hatte, sprach sie gut Englisch. Der Sturz des Kommunismus eröffnete ihr die Möglichkeit, eine akademische Laufbahn in den USA einzuschlagen. Was die tschechische Gesellschaft betraf, war sie sowohl stolz als auch kritisch. Jahrelang waren die Leute mit relativer Stabilität und niedrigen Preisen ruhig gehalten worden. Sie waren eingelullt worden und sich dessen die ganze Zeitüber bewusst gewesen. Martina brachte mir eine Redewendung aus der kommunistischenÄra bei:«Wir tun so, als würden wir arbeiten, und sie tun so, als würden sie uns dafür bezahlen.» DenÜbergang zum Kapitalismus beschrieb sie als den Umzug von einem Zoo in einen Dschungel. Mit dem Niedergang des Unterdrückungsstaates hatte sich das Verbrechen rasend schnell verbreitet. Immer mehr Frauen waren zur Prostitution gezwungen. Neofaschistische Skinheads machten die Straßen unsicher. Darüber hinaus waren mafiöse kommunistische Gruppen nach wie vor mächtig, und was die Tschechen«Lustration» nannten, hatte das Land in eine moralische Krise gestürzt.

Das lateinischstämmige Wort«Lustration» bedeutet so viel wie«Reinigung». Gemeint waren eine politischeÜberprüfung und eine Befreiung desöffentlichen Lebens von den ehemaligen kommunistischen Kolaborateuren. Letzteres bezog sich insbesondere auf die Zuarbeiter des Geheimdienstes– sie machten einen großen Anteil der Bevölkerung aus, wie die tschechischen Bürger nach der Samtenen Revolution erfuhren, als ein vormaliger Dissident namens Petr Cibulka beschloss, ein geheimes Mitarbeiterverzeichnis der Geheimpolizei publik zu machen.

«Möchten Sie wirklich wissen», fragte Martina,«ob I