rosa leben
Komm näher. Hab keine Angst vor mir. Komm. Komm.
Da liegt ein Schattenüber deinen Augen, komm ans Licht. Dein Mund, weißt du, hängt freudlos und grau wie welkes, modriges Laub, so traurig siehst du aus, wie ein verregneter Baum, dessen Stamm aufgedunsen und weich ist wie ein unbehauster Schneck.
Komm näher, einsamer Schneck. Ich werde dich nicht verletzen. Ich nicht.
Das erste Mal ist jedesmal so. Ich kriege sie immer, und die Tanten haben mittlerweile einen Blick für die, die sie zu mir schicken. Die Verkrampften, die Unsicheren, die Muttersöhnchen. Alle zu mir. Und dann bleiben sie an mir hängen, und sie kommen nicht mehr los von mir. Nie mehr.
Du hast schöne Augen, Schneck. Wende sie nicht ab. Sieh mich ruhig an. Sieh dir alles an, und laß dir Zeit. Sieh mich an, sieh mich an, und schäme dich nicht. Dein Blick hat aufgehört mir weh zu tun, noch ehe du ihn auf mich gerichtet hast. Sieh mich an.
Zuerst ist nur diese vage Vorstellung vom Da-Sein. Warm kalt hell dunkel vorher nachher hier woanders verschwimmen austauschbar zu einem Zustand der Unmittelbarkeit, in dem Raum und Zeit weder Richtung noch Bedeutung haben. Alles was danach kommt, zählt nicht. All die Jahre, die wir damit verbringen, säuberlich unser Leben in Gestern und Morgen zu sortieren, sind unwesentlich, die Jahrzehnte, die wir uns noch auf diese Weise durch die Welt schleppen, haben keinen Stellenwert. Das einzige, was wirklich Leben ist, ist dieser unscharfe Zustand zwischen Träumen und Wachen, und alles, was wir jemals später tun, jede Anstrengung, die wir unternehmen, ist darauf ausgerichtet, zu diesem Zustand zurückzukehren. Erst im Tod finden wir die Erfüllung. Der Rest ist verschwendete Zeit.
Ich weiß, wovon ich spreche. Denn ich bin dieser Zustand.
Keine Angst, Schneck. Hier drinnen kann dir nichts geschehen. Du bist in Sicherheit. Denn jetzt bist du bei mir.
Keiner wird dir weh tun. Du bist bei mir.
Ich kenne ihre Blicke. Ich habe jede ihrer Gesten gesehen, ihr unbeholfenes, kleinlautes, schuldbewußtes Zögern, ihre fragende Miene, ihre erbärmliche Haltung, die nichts ist als eine Bitte, alles habe ich gesehen, und ich sehe es jedesmal aufs neue, und jedesmal bricht entsetzliche Müdigkeit in mich ein, eine Müdigkeit, die meine letzte Art zu trauern geworden ist. Doch jedesmal bezwinge ich mich. Und jedesmal wieder gelingt mir das Wort, wenn auch von Mal zu Mal bitterer, erkämpfter: Komm.
Meine Bude ist ein Loch. Mit Liebe zum Detail zwar, aber immerhin ein Loch, gut, um aus dem Regen zum Kühlschrank zu triefen, ihn aufzureißen und blöde hineinzustarren, während kalte Rinnsale den Nacken hinunterlecken wie Schweiß. Die Fenster sind abgeklebt mit Porzellanpuppenköpfchen, die ich aus grinsenden Frauenblättchen geschnitten habe, wenn die Stunden beim Arzt nicht vergehen wollten. Mittlerweile habe ich aufgehört, mich untersuchen zu lassen. Meine Fenster sind auch so voll genug. Und es wäre ja nicht, daß die Tanten wirklich Wert darauf legen würden. Und so bleibe ich, wenn mir fiebrig ist, stumpf vor dem Kühlschrank sitzen und schaue hinein wie in die letzten Wahrheiten. Manchmal, wenn ich tatsächlich einkaufen war, finde ich darin einen Eimer Pudding, Schokolade natürlich, zum Sattwerden und weil mir sonst auch nichts einfällt. Dann nehme ich einen der Einweglöffel, die ich in einem Schuhkarton sammle, und spachtle mir den Pudding auf die Zunge, bis mich sein Geruch in die Besinnungslosigkeit treibt.
Meine Bude ist ein Loch. Gut, um todmüde des Nachmittags hineinzutaumeln und die muffelige Kleidung auf dem Teppich zu verstreuen und auf das Sofa, Tisch und Bett gleichermaßen, zu fallen. Es schläft sich immerhin, es schläft sich, und der Schlaf ist bleiern und schwarz und ohne Träume, und es ist dieses Schlafes wegen, daß ich meine Bude achte. Es schläft sich, und Schlaf ist eine Wohltat, wenn man es versteht, ohne Träume dazuliegen, leblos und steinern wie ein Brunnen. Entsetz