Das Pferd in der Flasche
Theres stand mit dem Fahrrad schon am Gartentor. Sie leckte an ihrer Zahnspange. Das machte sie seit einer halben Stunde. Ihre Zunge war schon ganz wund. Im rechten Augenwinkel sah sie Jana aus ihrem Haus kommen. Die rannte, wie immer. Wahrscheinlich hatte sie wieder verschlafen. Theres drehte den Kopf zur Seite, schaute der Freundin entgegen, aber nur ein wenig, dabei ließ sie die Haare halbüber ihr Gesicht fallen, der Fahrradhelm schwebte gewichtslosüber ihrem Kopf, und sie blinzelte durch den feinen blonden Schleier, eine gekräuselte Spitzengardine. Dann warf sie die Haare zurück, trat heftig in die Pedale und flog davon. Sollte Jana sich wundern, denn normalerweise fuhr die voraus.
Wie lange aber würde sie durchhalten? Jana war viel kräftiger und musste sie bald einholen. Theres fuhr das beste aller Fahrräder, Alu-leicht und gefedert zum Davonschweben– aber einen Motor hatte es nicht. Jana holte auf. Die Straße wurde steiler. Theres strengte sich an. Das tat sie selten, und sie fühlte, wie ihr das Blut in den Kopf stieg.
Na gut, dachte sie, ein roter Kopf ist ein roter Kopf, vielleicht merkt man nicht, dass er vorher schon rot war.
Sie wollte nicht mit Jana reden, noch nicht. Sie wollte mit niemandem reden. Auch ihrer Mutter hatte sie nichts gesagt. Sie hatte das kleine Päckchen sofort in ihrer Schultasche verschwinden lassen und war ins Bad gerannt.
Es war der 3. Oktober. Ein Tag vor ihrem Geburtstag. Schon das allein war eine Katastrophe. Wenn jemand aus England– oder war es Amerika– ein Päckchen als Sonderzustellung aufgibt, mit so genauen Angaben– 7.15 Uhr abgeben,– dann musste er doch auch den Tag genau bestimmen können. Hatte er vergessen, wann sie Geburtstag hatte? Oder wollte er mal wieder ihre Mutterüberholen und ihrsein Pferd schenken, bevor sie eins von der Mutter bekam? Sein Pferd! Ihr wurde schlecht.
Es fing an zu regnen. Ein goldener Oktober war das bis jetzt nicht. Sie hatte schon besseres Geburtstagswetter erlebt. Und sie hatte schon bessere Geburtstagsgeschenke bekommen. Natürlich hatte sie sich ein Pferd gewünscht, aber–
Regen ist gut, dachte sie und hob das Gesicht.
Und als Jana sie schließlich einholte, waren die Regentropfen auf ihren Wangen nicht mehr von den Tränen zu unterscheiden.
«Was ist denn los?», fragte Jana.
Sie keuchte, tatsächlich, sie keuchte. Das war wohl auch für Jana anstrengend gewesen.
«So rast du doch sonst nicht zur Schule. Wir sind nicht mal spät dran.»
Theres hielt, sie konnte nicht weiter. Es ging ja immer noch bergauf. Sie wartete, bis sie wieder reden konnte, und sagte:«Ich musste schnell weg. Meine Mutter wollte mich mit dem Auto bringen. Sie hat Angst, dass ich mich erkälte. Kennst sie doch.»
Jana nickte. Das war vollkommen glaubwürdig. Theres’ Mutter hatte vor allem Angst.
Zum ersten Mal freute sich Theres, dass sie diesen anstrengenden Schulweg hatten. Niemand konnte erwarten, dass sie dabei auch noch erzählte. Sie fuhr nun langsam. Es war wirklich noch früh. Auf keinen Fall wollte sie vor der Schule herumstehen, erst recht nicht in der Pausenhalle. Da hätte sie keine Regentropfen mehr im Gesicht, unter die sich unauffällig ihre Tränen mischten. Sie ließ Jana vorausfahren und sah die kurzen dunklen Haa