II. Eine japanische Mysterie.
Von dem bleigrauen Himmel, welcher an einem Wintermorgenüber London hing, fiel ein feiner, kalter Regen herab, aber er vermochte nicht die Tausende und Abertausende von Menschen zu zerstreuen, welche sich in den engen Straßen der City um ein altes, finsteres Gebäude zusammendrängten.
Dieses, von hohen Mauern umringt, schon mehr eine kleine Stadt für sich, ist das sogenannte Newgate, die uralte Hinrichtungsstätte der englischen Hauptstadt.
»Jetzt wird er gehenkt, Keigo Kiyotaki, der freche Japaner, der den alten Loftus Deacon ermordet hat!«
So geht es murmelnd durch die ungeheure Menge, und aller Augen sind starr auf die Flaggenstange gerichtet, welche, in der Mitte des Häuserkomplexes stehend,über den Mauern noch allen sichtbar ist.
Und plötzlich verstummt in der tausendköpfigen Menge auch das Flüstern und Murmeln, es ist, als ob sich der Flügel des stummen Todes auf die ganze Riesenstadt herabsenke– denn jetzt steigt an der Flaggenstange eine kleine, schwarze Fahne empor, und in demselben Augenblicke, da sie die Spitze erreicht hat, ertönt ein durchdringender Glockenton.
Es ist das Armesünderglöcklein, bei dessen zwölftem Tone das Fallbrett unter den Füßen des am Galgen Stehenden weicht. So war es schon vor hundert, vielleicht vor Hunderten von Jahren, so wird es noch heute in England gehandhabt.
Diesmal ist es ein brauner, schlitzäugiger Sohn aus dem Reiche der aufgehenden Sonne, welcher jetzt unter dem Galgen, den Strick um den Hals, mit festgeschnallten Armen auf dem Fallbrett steht. Fern von seiner schönen Heimat, hier in London ist er zum Mörder geworden. Nicht um sich zu bereichern, nicht aus Rachsucht hat er die wohlüberlegte Tat begangen, sondern aus einem für uns Europäer schier unbegreiflichen Grunde, aus Aberglauben, aus treuer Anhänglichkeit an eine ihm heilige Sitte seiner Väter.
Aber die englischen Richter konnten auf die religiösen Ansichten eines heidnischen Volkes im fernen Osten keine Rücksicht nehmen– jetzt läutet das Armesünderglöcklein für diesen jungen, vornehmen Japaner, für den letzten Sproß eines edlen Geschlechtes.
»Bim!!« erschallt es zum zweiten Male, und es ist, als ob das Sterbeglöcklein für jeden einzelnen dieser zahllosen Menschen bestimmt sei, so zucken stets alle bei dem durch Mark und Bein gehenden Tone zusammen.
Drei Sekunden liegen zwischen jedem Glockenschlage. Für die atemlos Wartenden erscheinen sie stets eine Ewigkeit.
Fürwahr, dieses Warten innerhalb der 36 Sekunden auf die 12 Glockenschläge, das muß für den zum Tode Verurteilten die furchtbarste Strafe sein!
Da endlich, endlich zum dritten Male: bim!!
Und wieder bricht eine neue Ewigkeit an.
Jetzt, jetzt ...aber jetzt muß doch der vierte Schlag kommen ...
Nein, immer noch nicht.
Aber jetzt ...
Jetzt wird wahrhaftig eine Ewigkeit daraus!
»Es muß doch schon eine halbe Minute vergangen sein?«
»Die Glocke wird nicht funktionieren.«
Dieses Warten auf den vierten Glockenschlag ist so gräßlich, daß in der zusammengepreßten Menge schonüberall Ohnmachtsanfälle vorkommen.
Und da plötzlich schrickt alles tödlich zusammen, denn mit einem Male erfüllt ein gellendes Geheul die Luft, die ganze Hölle scheint entfesselt zu sein, und wirklich sind es kleine Teufel, welche sich rücksichtslos mit den Ellenbogen zwischen den Menschen Bahn zu machen wissen, unter dem einen Arm hat jeder einen großen Pack Papier, in der anderen Hand schwingt er ein einzelnes Blatt Papier, und dabei heult diese kleine Teufelsbande abwechselnd in allen Tonarten:
»Worlds Magazine, drei Pence die Nummer!!!– Keigu Kiyotaki ist unschuldig!!!– Worlds Magazine, sechs Pence die Nummer!!!– Der amerikanische Detektiv Nobody hat den wahren Mörder von Loftus Deacon gefaßt!!!– Worlds Magazine, einen Schilling die Nummer!!!«
Wie? Was? Hört man denn recht? Ist das nicht nur ein Trug der Hölle? Wie soll denn eine schon gedruckte Zeitung, noch dazu diese amerikanische Schwindelzeitung ...
»Die weiße Flagge! Die weiße Flagge!!!« erschallt da der Ruf, und aller Blicke wenden sich wieder der Flaggenstange zu.
Und da klettert an dieser schnell ein weißes Tuch empor, und wie die Flagge der Unschuld die Spitze erreicht hat, wird die schwarze der Schuld und des Todes herabgerissen– und da brach der