: Sophokles
: Antigone. Tragödie Textausgabe mit Anmerkungen/Worterklärungen, Literaturhinweisen und Nachwort - Sophokles - altgriechische Literatur in deutscher Übersetzung - 19075
: Reclam Verlag
: 9783159605104
: Reclams Universal-Bibliothek
: 1
: CHF 1.80
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: Dramatik
: German
: 72
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Die Zuneigung zum Bruder wird ihr zum Verhängnis: Antigone wird auf Befehl Kreons bei lebendigem Leib eingemauert. Sie hatte es gewagt ihren Bruder Polyneikes zu bestatten, der gegen die Heimatstadt Theben ins Feld gezogen war. Damit handelte sie dem Verbot des Königs zuwider. Das »Recht der Götter« und das »Recht des Staats« stehen sich in diesem Konflikt unversöhnlich gegenüber. Sophokles' Tragödie aus dem Jahr 442 v. Chr. bringt damit zeitlose Fragen auf die Bühne: Wo sind die Grenzen der Selbstbestimmung des Einzelnen - und wo sind die Grenzen der Verfügungsgewalt des Staates?

Sophokles (496/496 v. Chr. in Kolonos - 406 v. Chr. in Athen) gehört neben Aischylos und Euripides zu den bedeutendsten Tragödiendichtern der Antike. Der Sohn eines Fabrikanten schrieb über 120 Stücke - von denen bis heute nur noch sieben vollständig erhalten sind - und ging im Wettstreit der Dramatiker 24 Mal als Sieger hervor. Aristoteles skizziert Sophokles in seiner »Poetik« als einen Erneuerer des Theaters: Er führte den dritten Schauspieler ein, erweiterte den 12-köpfigen Chor auf 15 und nutzte als Erster gemalte Bühnenkulissen. Sophokles' berühmtes analytisches Drama »König Ödipus« zeigt den im Dialog vollzogenen Erkenntnisprozess des gleichnamigen thebanischen Königs, der im Wissen über den selbst verübten Vatermord und die Heirat der eigenen Mutter endet. In »Antigone« stürzt der Konflikt zwischen weltlichem und religiösem Recht die Protagonistin in ein Dilemma, das sie letzten Endes das Leben kostet. Einige heutige Interpreten erkennen in ihrem Widerstand gegen Kreon einen mutigen Akt zivilen Ungehorsams.

Prologos (1–99)

Vor dem Königshaus in Theben, noch vor Tag. Aus dem Palast treten Antigone und Ismene.

ANTIGONE. Ismene, Schwester, gleichem Mutterleib entstammt!

Kennst du nur eines der vonÖdipus entsprungnen Leiden,

das Zeus uns beiden nicht im Leben noch erfüllt?

Denn da ist nichts an Schmerz und nichts, wasAte wirkt,

und nichts an Schande und Missachtung, das ich nicht  [5]

in deinen und in meinen Nöten hab gesehn.

Und jetzt– was ist dies wieder– wie man sagt– für ein Erlass,

den jüngst des Heeres Führer an die ganze Stadt ergehen ließ?

Hast du’s vernommen, weißt es oder merkst du nicht,

wie auf die Freunde Unheil zukommt von den Feinden?  [10]

ISMENE. Zu mir ist keine Kundeüber unsre Freunde,

Antigone, gekommen, weder bittere noch frohe,

seit wir beraubt sind, beide, beider Brüder,

die, einer durch des andern Hand, an einem Tage fielen.

Und seit vergangne Nacht die Streitmacht der Argeier  [15]

zurück sich zog, weiß ich nichts weiter mehr,

nicht, was mein Glück vergrößert noch mein Leid.

ANTIGONE. Ich konnt’s mir denken! Drum beschied ich dich

vors Hoftor, dass du es alleine hörst.

ISMENE. Tief wühlt dich sichtlich auf die neue Kunde.  [20]

ANTIGONE. Hat Kreon nicht den einen unsrer beiden Brüder

des Grabs gewürdigt und dem andern schmählich es versagt?

Eteokles, sagt man, hat er, wie’s die Ordnung will,

nach Recht und Brauch geborgen in der Erde,

so dass er drunten bei den Toten Ehr genießt.  [25]

Doch Polyneikes’ Leiche, der so kläglich fiel,

– es sei den Bürgern ausgerufen, heißt es– solle keiner

im Grabe bergen und bejammern, nein, man lass

ihn unbestattet, unbeweint, den Beutevögeln  [29]

als leckern Vorrat, wenn sie ihn erspähn, zum Fressgenuss.

Und solches, sagt man, hat der brave Kreon dir

und mir– ich sag: auch mir– verkündet,

und hierher kommt er, um es denen, die’s nicht wissen,

genau zu künden; er erachte diese Sache keineswegs  [34]

für eine Nichtigkeit, nein, jedem, der so etwas tut, dem sei

hier in der Stadt der Tod durch Steinigung durchs Volk bestimmt.

So steht’s für dich, und bald wirst du beweisen,

ob du im Wesen vornehm oder schlecht, trotz edler Eltern.

ISMENE. Was könnt ich, Arme, wenn es denn so steht,

sei’s lösend, sei es knüpfend, dazu tun?  [40]

ANTIGONE. Ob du mit mir dich mühn und handeln willst, erwäg!

ISMENE. Bei welch riskanter Tat? Wo denkst du hin?

ANTIGONE. Ob du den Toten bergen willst im Bund mit meiner Hand?

ISMENE. So willst du ihn begraben, was der Stadt doch untersagt?

ANTIGONE. Ja, meinen Bruder– und den deinen, auch wenn du  [45]

dich weigerst! Niemals zeiht mich einer des Verrats.

ISMENE. Verwegne! Wo doch Kreon es verbietet?

ANTIGONE. Er hat kein Recht, mich von den Meinen fernzuhalten.

ISMENE. Weh mir! Bedenke, Schwester, wie der Vater uns

berüchtigt und verhasst zugrunde ging,  [50]

nachdem er selbstenthüllter Frevel wegen

die beiden Augen selber sich zerstach mit eigner Hand,

wie dann die Mutter und die Frau– zwei Worte braucht’s!–

sich schimpflich nahm das Leben mit geflochtnem Strick,

und wie zum dritten dann die beiden Brüder an dem einen Tag, &nb