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An dem Morgen, an dem Mama in aller Ruhe verkündete, dass sie bald noch ein Baby bekommen würde, blieb Leah schweigend an der Küchentür stehen und hielt sich ein wenig zurück, während ihre Zwillingsschwestern, besonders Mary Ruth, hellauf begeistert waren, dass Mama wieder schwanger war. Viele Amische der Alten Ordnung betrachteten es als unangebracht, unverheirateten Kindern solche Dinge zu verraten, aber Mama und auch Papa waren anderer Ansicht und zögerten nicht, ihre größeren Töchter in ihre Freude einzubeziehen, auch wenn dies sehr diskret geschah.
„Lydiann kann schon laufen und fängt an zu sprechen. Da ist es bestimmt lustig, wieder ein Baby im Haus zu haben“, erklärte Mary Ruth.
„Und es ist so wunderbar, dass Lydiann einen Bruder oder eine Schwester in ihrem Alter bekommt.“ Hannah lächelte von einem Ohr zum anderen und war von dieser Ankündigung ganz entzückt, wahrscheinlich genauso sehr, wie Papa es gewesen war, als Mama ihm diese Nachricht vorher unter vier Augen verraten hatte.
Leah hatte von Papa nicht die geringste Andeutung gehört, obwohl er beim Morgenmelken jede Menge Gelegenheiten gehabt hätte, etwas zu sagen. Ihr Vater war noch nie jemand gewesen, derüber persönliche Dinge sprach; das wusste Leah nur zu gut, denn sie hatte ihn seit einiger Zeit immer wieder nach Informationenüber ihre eigene Geburt ausgefragt, aber ohne Erfolg.„Meine Güte, Leah“, sagte er jedes Mal, wenn sie darauf zu sprechen kam.„Sei dankbar, dass der Herr dich gesund und kräftig gemacht hat und dass du mit dem Kopf voraus geboren wurdest. Was willst du denn sonst noch wissen?“
Es gab natürlich einige Fragen, die ihr keine Ruhe ließen, zum Beispiel, wer ihr leiblicher Vater gewesen sein könnte. Lizzie schien jedoch nichtüber dieses Thema sprechen zu können.Ist es zu schmerzlich, die Vergangenheit aufzuwühlen?, fragte sich Leah. Oder wollte Lizzie es einfach nicht ansprechen aus Angst, sie könnte ein Mitglied der amischen Gemeinde in Hickory Hollow, das mehrere Meilen von Gobbler’s Knob entfernt war, belasten? Außerdem gab es wichtige Fragen zu dem Tag, an dem Leah auf dem Ebersolhof das Licht der Welt erblickt hatte, aber sie brachte es nichtübers Herz, Lizzie diese Fragen zu stellen.
Mary Ruth bemerkte mit einem flüchtigen Blick auf Leah:„Vielleicht bekommt Papa endlich einenrichtigen Sohn.“
„Ach du meine Güte!“, rief Mama und bedachte Mary Ruth mit einem strafenden Kopfschütteln. Sie setzte sich auf die Holzbank an den Küchentisch und fächerte sich mit dem Saum ihrer langen schwarzen Schürze Luft zu. Ihr rundes Gesicht war von der Wärme des Holzofens gerötet, in dem zwei Erdbeerstrudel backten.
„Aber ... wenn das Baby ein Mädchen ist“, ergriff Hannah das Wort,„müssen wir nicht so viel nähen.“
Endlich mischte sich auch Leah in das Gespräch ein.„Wir müssen auf jeden Fall bis zum Dezember fleißig sein und viele warme Babysachen nähen und stricken. Lydiann war ein Frühlingsbaby. Vergesst das nicht.“
Für diese Bemerkung erntete Leah ein freundliches, sanftes Lächeln von Mama.„Das ist meine Leah. Immer auf das Praktische bedacht.“
Mary Ruth plauderte weiter und fragte, wo Lydiann schlafen würde, wenn das Kleine erst einmal auf der Welt wäre.
Schnell schlug Hannah vor:„Sie kann doch bei uns schlafen. Nicht wahr, Mary Ruth?“
Mama lachte.„Dann bekämt ihr beide nicht viel Schlaf, so zappelig wie dieses Kind ist!“
Leah drehte sich um und schlüpfte nach draußen. Dort begab sie sich zum Hühnerstall, wo sie den Tieren ihr Futter hinstreute. Sie lehnte sich an die dünne Wand und schaute zu, wie die Hühner um ihre nackten Füße herum die Körner aufpickten.„Ehrlich gesagt“, murmelte sie bei sich,„weiß ich nicht, ob ich michüber ein neues Baby freuen oder ob ich traurig sein soll.“
Die Hühner schenkten ihr keine Beachtung, nur der einsame Hahn legte den Kopf schief und beäugte sie neugierig. Sie hatte sich zu einem Lächeln gezwungen, als Mama verkündet hatte, dass sie zu Weihnachten ein Kind erwartete. Hier im Stall, in der Gesellschaft von niemand anderem als den Hühnern, erinnerte sie sich an die Monate vor zwei Jahren, bevor Lydiann auf die Welt gekommen war. Mama war so furchtbar müde gewesen ... un