Warum gibt es so wenig Literaturüber Erstgeborene?
Ein Entsetzen ergreift mich, wenn ich bedenke, dass ich mein Verständnis für meine Schwester und die Liebe zu ihr nur gewinnen konnte, weil mir ein langes Leben gegönnt wurde. Trotz meiner reichen Lebenserfahrungen und trotz meines intensiven Berufslebens als Kinderpsychologin war ich gegenüber den Erstgeborenen taub und blind. Solange ich mich persönlich betroffen fühlte, da ich von klein auf zum Gegenangriff gegen diese bedrohlicheÜbermacht bereit war, konnte ich keine objektive Einsicht gewinnen. Mein Herz war nicht frei.
Ist vielleicht diese frühe Verblendung auch für andere Autoren der Grund dafür, warum bis heute niemand ein Sachbuchüber Erstgeborene geschrieben hat und auch die Beziehung zu den nachfolgenden Geschwistern oft zu kurz kommt? In seinem Buchüber GeschwisterBrüder und Schwestern. Geburtenfolge als Schicksal stellt Karl König eineähnliche Frage. Er staunt darüber, dass»noch niemand versuchte, das soziale Verhalten innerhalb der Geschwisterreihe ins Auge zu fassen ...«. Er meint, dass man die Antwort auf die Auswirkungen der Geburtenfolge auf einer falschen Fährte gesucht hat. Man dachte irrtümlicherweise an Unterschiede der Intelligenz und der Charaktere. Die wesentlichen Unterschiede aber ergeben sich in den sozialen Einstellungen.»Ja, ein erster Sohn ordnet sich sozial ganz anders als ein zweites Kind«, stellt König fest. Eine einfache Tatsache, an welcher die meisten Forscher vorbeigehen, ganz so, als hätten sie Scheuklappen gegen das Naheliegende aufgesetzt. Scheuklappen, die dem Herzen das Sehen nicht gestatten. Wie sagt der Fuchs inDer kleine Prinz von Antoine de Saint-Exupéry?»Man sieht nur mit dem Herzen gut.«
Ist das vielleicht die besondere sozial-emotionale Sichtweise, die eher den Zweitgeborenen als den Erstgeborenen zum Schreiben eines Buchesüber die Geschwistersituation anspornt und diese durch die Brille des Zweitgeborenen sehen lässt? Höchstwahrscheinlich ging es Alfred Adler, dem zweitgeborenen Sohn, nicht anders, als es mir früher erging. Er war in dem Widerstand gegen seinen erstgeborenen Bruder gefangen (und in der Nachfolge auch gegen Sigmund Freud, den erstgeborenen Muttersohn), sah die vielen Vorteile, die Spätgeborene hatten, und deutete die Erstgeborenen eher als die Unfreien und Machthungrigen, als würden sie ein potentielles Kainzeichen auf der Stirn tragen. Von ihm stammt auch die verletzende Metapher von der»Entthronung« des Erstgeborenen.
Erst nachdem ich meine eigenen Scheuklappen ablegen und Verständnis für die Situation der Erstgeborenen entwickeln konnte, war ich in der Lage, die Beschwerden derjenigen Mütter und Väter, die in ihrer Ursprungsfamilie selbst spät geboren waren und sich in die Not ihres erstgeborenen Kindes nicht hineinversetzen konnten, zu verstehen. Die Verhaltensauffälligkeiten ihrerÄltesten riefen allzu oft den alten Groll gegen das eigeneältere Geschwister in Erinnerung. Als selbst Leidgeprüfte können sie sich gut in die Betroffenheit des Jüngeren einfühlen und ihm die Stange halten. Bereits am Telefon erkenne ich mittlerweile an der Stimme, worum es geht:»Meinältester Sohn weigert sich, dem kleinen Brüderlein sein Spielzeug zu leihen. Wie soll ich ihm helfen?« –»Wem eigentlich?«, frage ich scheinbar naiv zurück.»Die Wievielte sind Sie selbst in ihrer Geschwisterreihe?«, frage ich weiter, obwohl ich die Antwort meist ganz genau weiß. Denn meistens klagt die kleine Schwesterüber ihren großen Bruder.»Kann esüberhaupt sein, dass das erste Kind völlig anders als das zweite wurde, obwohl es die gleichen Eltern hat?«, fragen manche Eltern, als könnten sie nicht sehen, dass jedes Kind in eine andere Lage hineingeboren wird.
Das erklärt vielleicht auch die seltene Nachfrage nach Büchernüber Erstgeborene.Über alle möglichen psychologischen Themen gibt es Bücher.Über die bösen Mädchen, dieüberall hinkommen,über die Frauen, die zu viel lieben,über die Männer, die sich lieben lassen, undüber solche, die schweigen und und und. Und all diese Bücher werden mit Interesse gelesen, obwohl sie manchmal weit davon entfernt sind, was den jeweiligen Leser in seinem Leben bewegt. Das Schicksal der Erstgeborenen jedoch spricht fast jeden Mensch an. Nur die Einzelkinder bilden eine gewisse Ausnahme. Aber auch sie berührt das Thema, denn es ist durchaus möglich, dass ein Elternteil in seiner Ursprungsfamilie der Erstgeborene war oder unter dem Einfluss des Erstgeborenen aufwuchs und dementsprechend in seinem Verhalten geprägt wurde. So gibt es niemanden, den das Thema der Erstgeborenen nicht berührt. Entweder weil sie selbst Erstgeborene sind oder jahrelang die Konfrontation mit dem erstgeborenen Geschwister gelebt haben. Wie kommt es dennoch, dass das Interesse an diesem Thema so gering ist?
Ehrlich gesagt, ich weiß es selbst nicht. Ich kann nur spekulieren. Wuchs vielleicht der Erstgeborene in seine Rolle so selbstverständlich hinein, dass er sie für etwas völlig Normales hält? So gesehen würde niemand ein Buchüber die Haut, in der er steckt, schreiben oder lesen. Er wäre höchstens rein sachlich daran interessiert, wie die Haut beschaffen ist und wie er sie pflegen kann. Es wird ihm aber nicht einfallen darüber nachzudenken, ob diese Haut für ihn vorteilhaft oder ungünstig ist und wie es wäre, wenn er keine Haut hätte. Er steckt in dieser Haut und diese Haut ist sein Schicksal und er kann sie nie loswerden. Auch an der Tatsache, dass einer erstgeboren ist, lässt sich nic