Ich heiße Maja Abramowna, mit Mädchennamen Klozwog.
Ein sehr seltener Name, aber was er genau bedeutet, ist mir nicht bekannt. Falls es jemand weiß, es würde mich interessieren. Obwohl das für mich nicht wichtig ist– wichtig ist, wie ein Mensch seinen Weg gegangen ist, nicht wie er mit Nachnamen heißt.
Ich bin Jahrgang 1930, und wie alle in meiner Generation habe ich mehr gesehen, als guttut.
Von Beruf bin ich Mathematiklehrerin. Jetzt natürlich in Pension. Aber ich betrachte mich nicht als ehemalige Lehrerin. Lehrer gehört zu den Berufen, die nicht in der Vergangenheitsform vorkommen. Dieser Gedanke hilft mir sehr.
Geboren bin ich in Ostjor, einem Städtchen im Bezirk Koselez, Gebiet Tschernigow. Heute kennt den Ort kaum noch jemand, aber als ich auf die Welt kam, war er ein wichtiges jüdisches Zentrum. Auf Bezirksebene waren praktisch alle leitenden Beamten Juden, und sie arbeiteten Hand in Hand mit den anderen Nationen und Volksgruppen. Mit dem ukrainischen Volk an erster Stelle. Und niemand hat sich beschwert.
Aber darum geht es nicht.
Die Leute haben nicht die Geduld zum Leben. Manche noch weniger als andere. Ich habe immer Geduld und Verständnis gehabt.
Meine Erinnerungen an die frühe Kindheit sind erfüllt von der Schönheit meiner Heimat: Die Flüsse Ostjorka und Desna– auf der Strecke Ostjor–Kiew fuhr der DampferNadeshda Krupskaja–, die wunderbaren Wälder, die schöne Architektur ringsum, besonders das Gebäude der alten Synagoge an der einzigen geraden Straße, der Perwomajskaja. An derselben Straße, nur am anderen Ende, Richtung Soloninowstschina, lag auch das Kino. In der Synagoge spielte bis Mitte der dreißiger Jahre ein Jiddisches Theater. Auch später wurde sie weiter als Theater genutzt. Dort traten Amateure auf, Anhänger der Laienkunst, darunter auch meine Mutter Faina Lejbowna.
In Soloninowstschina, auf dem Anwesen eines mir unbekannten Gutsbesitzers, hatten sie ein Stadion eingerichtet, aber dort gingen wir selten hin, es war zu weit. Bekannt im ganzen Gebiet war auch das Heimatmuseum aus dem Jahr 1906.
Uns fehlte es an nichts. Wir waren begeisterte Muschelsammler und -köche. Wenn wir zu viel Muschelfleisch aßen, mussten wir das büßen. Aber zum Glück war unsere Verdauung abgehärtet.
Was ich mir als Kind angeeignet habe, hat mir auch später geholfen, mit widrigen Umständen fertigzuwerden.
Ich weiß noch, meine Großmutter konnte meisterhaft Strümpfe unterm Knie eindrehen, so dass sie nicht herunterrutschten und keine Falten warfen. Es gab ja keine Gummibänder oder andere Hilfsmittel. Meine Strümpfe sahen immer tadellos aus. Von meinen Freundinnen, denen ich den Trick zeigte, schaffte das kaum eine– aber das war erst später. Als Kinder hatten wir diese Sorgen nicht, da liefen im Winter alle in bequemen Pumphosen aus dem erstbesten Stoff herum, und um es warm zu haben, wickelten wir darunter noch Zeitungen um die Beine.
Die Zeit des Großen Vaterländischen Krieges habe ich mit meiner Mutter und meiner Großmutter in der Evakuierung verbracht, in der Nähe von Atbassar in der Kasachischen Sowjetrepublik. Meine Großmutter starb an einer Lungenentzündung.
Meine Mutter und ich arbeiteten in einem Waggon-Reparaturwerk. Ich machte Fortschritte im Schlosserhandwerk, der Meister hatte besonderen Respekt vor mir. Er litt an einem Magengeschwür, und wir hatten vereinbart, dass ich ihm meine Alkoholration gab und er mir seine Milch. So bekam ich die zusätzliche Nahrung, die ein dreizehnjähriges Mädchen in meinem Alter brauchte.
Nach und nach erfuhren wir, dass unser Mann und Vater beimÜbergangüber den Dnepr gefallen war. An die Reaktion meiner Mutter erinnere ich mich nicht.
Mein Vater war in jeder Hinsicht ein fürsorglicher, gutherziger Mensch gewesen. Vom Polenfeldzug hatte er sich einen Anzugstoff mitgebracht, einen weichen grauen mit winzigen Pünktchen. Meine Mutter zog einen Faden heraus und zündete ihn an, um die Qualität zuüberprüfen. Der Faden brannte, statt zu verglühen, und der Geruch war nicht der richtige. Mama schloss daraus, dass der Stoff nicht aus Wolle war, wie mein Vater geglaubt hatte. Aber sie sagte ihm nichts. Sie wollte ihm keinen Kummer machen.
Auch für meine Mutter und mich gab es Kleiderstoffe als Mitbringsel: einen dunkelbraunen mit glänzenden Streifen, und einen mit ganz dünnen, gestrichelten. Ihre Zusammensetzungüberprüfte meine Mutter nicht. Oder zumindest habe ich nichts davon mitbekommen. Genäht wurden die Kleider nach englischer Fasson. Nicht von meiner Mutter, wohlgemerkt, dafür war die Verantwortung zu groß und der Stoff zu teuer, sondern von einem guten Schneider, Ilja Mordkowitsch Chejfez– das liefüber Beziehungen, denn er hatte viel zu tun