Kapitel 1
24. Januar 1998
»Kommen Sie herein.« Scott Duncan steht von seinem Schreibtisch auf und reicht Jay Johnstone, einem seiner Verkaufsmanager, die Hand. In seiner gelassenen Eleganz wirkt Duncan eher wie ein Aristokrat als wie der einfache amerikanische Junge, der es zu etwas gebracht hat. Mit seinen 46 Jahren leitet er eine Softwarefirma, die zu den erfolgreichsten der Welt zählt.
»Setzen Sie sich doch.« Scott weist auf die andere Seite seines Büros.»Sie kommen gerade recht. Ich habe mich eben gefragt, wie Sie wohl mit Alkar vorankommen.«
Ein Lächeln huschtüber Jays Gesicht. Der Gerüchteküche nach ist der Sitzplatz, den Scott seinen Mitarbeitern in Gesprächen anbietet, ein Zeichen der Wertschätzung, die er ihnen entgegenbringt– oder eben nicht. Wer vor Scotts riesigem Schreibtisch Platz nehmen soll, der muss darauf gefasst sein, alle Fakten offen auf den Tisch legen und eine Menge ungeduldiger Fragen beantworten zu müssen. Nicht wenige fanden sich bereits nach fünf Minuten vor der Tür wieder und fühlten sich wie eine ausgequetschte Zitrone.
Wer aber das Glück hat, in einem der Ledersessel am großen Konferenztisch Platz nehmen zu dürfen, der bekommt vielleicht zu hören, wie hervorragend er in die Globalstrategie des Unternehmens passt. Und es gibt kaum etwas Spannenderes als mitzuerleben, wenn Scott seine großen Strategien entfaltet. Nicht allein seine eigenen Leute, sondern auch die Analysten der Wall Street sind inzwischen fasziniert von Scotts Fähigkeit, neue Entwicklungen aufzuspüren: die der Wirtschaft im Allgemeinen und die der Informationstechnologien im Besonderen. Dass er aus einem bescheidenen Softwareunternehmen einen Giganten mit einem Markwert vonüber 10 Milliarden Dollar geschmiedet hat, trägt nicht wenig zu seiner Glaubwürdigkeit bei. Wäre dem nicht so, gälten seine Visionen und Strategien wahrscheinlich nur als gewagte Spekulationenüber neue Technologien und deren Chancen am Markt.
»Wie wir mit Alkar vorankommen? Nun ja, am Anfang waren wir eine von neun Firmen, die Angebote gemacht haben. Jetzt gibt es nur noch uns und DFP.«
»Und?«
»Es sieht gut aus.«
Scotts erwartungsvoller Gesichtsausdruck ermutigt Jay, ins Detail zu gehen.»Wir gingen nach unserer Standardtaktik vor und sie scheint ein weiteres Mal zu greifen.«
Wer auf dem großen Markt der Informationstechnologie konkurrenzfähig bleiben will, braucht weit mehr als nur ein gutes Produkt. Wenn man bedenkt, dass das Auftragsvolumen im Durchschnitt einige Millionen Dollar beträgt, nicht selten aber auch einige hundert Millionen, dann liegt es auf der Hand, dass gute Verkaufsstrategienüberlebenswichtig sind.
Scott hat für den Vertrieb eine eigene Verkaufsstrategie entwickelt. Ihm war nicht entgangen, dass Computersysteme in rasantem Tempo immer mehr derüblichen Büroarbeitenübernommen hatten, ohne dass dafür adäquate Standards entwickelt worden wären. Er fand einen Weg, dieses Handicap der gesamten Branche in einen Wettbewerbsvorteil zu verwandeln. Ganz am Anfang des Spiels, möglichst noch bevor ein potenzieller Kunde Angebote verschiedener Softwareunternehmen angefordert hat, machen seine Leute bereits ihre Hausaufgaben. Sie finden heraus, wer in dem betreffenden Unternehmen die vorgeschlagene Softwarelösung wahrscheinlich testen wird. Diesen Profis gilt nun ihre ganze Aufmerksamkeit. Während die Konkurrenz eifrig damit beschäftigt ist, die Entscheidungsträger des Unternehmens auszumachen und den Kontakt zu ihnen zu suchen, sind Scotts Leute ebenso eifrig dabei, die wirklichen Zielpersonen zu instruieren. Jedoch nicht etwa darüber, wie das BGSoft-System funktioniert, sondern ganz allgemein darüber, wie ein für das jeweilige Unternehmen passendes Computersystem beschaffen sein sollte, welche Vor- und Nachteile die angebotenen Konfigurationen haben, welche Features wirklich wichtig sind und welche nur dazu dienen, Neulinge zu beeindrucken.
Das Know-how, das Scotts Leute vermitteln, setzt die Standards, bevor der eigentliche Kampf um den Kunden beginnt und es bildet die Kriterien, nach denen der Kunde entscheidet, welches Angebot sich am besten für ihn eignet. In einer Branche, in der es eigentlich keine Standards gibt, hat das Unternehmen so einen enormen Vorteil.
Scott wirft einen Blick auf seinen Monitor.»Ich sehe, dass DFP sein erstes Angebot um jede Menge weiterer Features verbessern musste, bevor eine endgültige Entscheidung getroffen wird.«
»Ja.« Jay lächelt.»Der erste und der zweite Versuch waren totale Flops. Und gestern hatten sie die letzte Chance, das Finanzcontrolling zu rationalisieren. Man munkelt, dass sie sich ziemlich blamiert haben. Ich glaube, dass Alkar sie nur mit im Rennen hält, um bessere Bedingungen aus uns herauszuquetschen.«
»Und wie steht es damit?«
»Besser als erwartet. Das Budget ist verabschiedet und wir haben uns auf die Anzahl der parallelen Nutzer geeinigt. Soviel ich weiß, sind die Verhandlungen mit KPI Solutionsüber den Support bei der Programmeinrichtung abgeschlossen.« Jay beugt sich vor und fügt leise hinzu:»Und wir haben noch nicht mal unsere Geheimwaffe eingesetzt– die Möglichkeit, Wartungsgebühren für jedes Modul gesondert abzurechnen.«
Selbstbewusst setzt er hinzu:»Wir treffen uns nächsten Montag mit ihnen, um die letzten Details festzulegen. Ich erwarte da keine Probleme mehr.«
Scott lächelt. Er wartet, bis Jay ihn direkt ansieht, und fragt dann sanft:»Wenn es so gut aussieht, wie kommt es dann, dass Sie in Ihrem Verkaufsbericht die Chancen, diesen Deal in diesem Monat abzuschließen, nur auf 50 Prozent einschätzen?«
Jay rutscht unbehaglich auf seinem Stuhl herum.»Das ist nur, weil ...«
»Erwarten Sie noch irgendwelcheÜberraschungen? Einen Gegenschlag in letzter Minute vielleicht?«, versucht Scott ihm zu helfen.
»Nein, eigentlich nicht. Meiner Meinung nach ist es zu spät für DFP. Nichts wird jetzt noch irgendetwasändern, egal, was sie noch ins Spiel zu bringen versuchen. Es hat nichts mit DFP oder dem Kunden zu tun, es ist nur ...«
Offensichtlich fühlt sich Jay nicht wohl in seiner Haut. Dann nimmt er seinen Mut zusammen:»Ich dachte nur, dass es in Ihrem Sinne ist, wenn wir besonders vorsichtig sind.«
»Sie meinen die berüchtigte allererste Regel? Meine Redensart:›Seien Sie paranoid‹?«
»Genau.« Jay ist verlegen.
»Also versuchen Sie in Ihren Verkaufsberichten, von denen Sie genau wissen, dass ich sie lese, paranoid zu sein?«
»Ja.«
Grinsend lehnt sich Scott zurück.»Jay, wenn Sie meinem Vorbild folgen wollen, dann sollten Sie bedenken, dass für mich›paranoid‹ eine andere Bedeutung hat als allgemeinüblich. Meiner Meinung nach verwechseln die meisten Leute›paranoid‹ mit dem, was ich unter