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Casey blickte zwischen den Ohren ihres Pferdes hindurch auf das Hindernis– wie ein Scharfschütze, der sein Ziel ins Visier nimmt. Selbst aus der Entfernung sah es unüberwindbar groß aus: Mount Everest in Miniatur. Ein kunstvoll arrangierter Blumenschmuck sollte dem Hindernis das Kolossale nehmen, doch die bunten Blüten und grünen Sträucher konnten die Realität des meistgefürchteten Sprungs der Badminton Horse Trials nicht kaschieren. Jene Reiter, die hier mit ihren Pferden gestürzt waren, nannten das Hindernis die«Schreckenswand». Wenn Casey diesen Sprung schaffte, würde der Gesamtsieg der schwierigsten dreitägigen Vielseitigkeitsprüfung in greifbare Nähe rücken.
«Rhythmus und Gleichgewicht, Rhythmus und Gleichgewicht», sagte sich Casey.«Vertraue deinem Pferd, vertraue dir selbst.»
Je näher sie dem Hindernis kamen, desto größer wurde es, bis es schließlich als unbezwingbares Ungeheuer vor ihnen in den Himmel ragte.
«Los, mein Junge, du schaffst es», spornte Casey ihr Pferd an, während sie es mit Schenkeldruck und Sitz vorwärtstrieb.
Doch Patchwork wollte nicht mehr. Am heutigen Tag hatte er bereits ein Balg herumtragen müssen, das ihn ständig getreten hatte, eine Frau, die so groß und schwer war wie ein Doppeldeckerbus, und einen Jungen, der seine Polo Mints nicht mit ihm teilen wollte. Er hatte also keinerlei Absicht, dieses Monstrum vor ihm zuüberspringen. Aus dem Augenwinkel legte er sich den direktesten Weg vom Parcours zu seinem Stall zurecht, wo das Abendessen auf ihn wartete. Dann preschte er mit einer leichten Richtungsänderung vor, jedoch nicht ohne den Schrotthaufen mit seiner Schulter im Vorbeigehen zu streifen. Das Getöse war Straßen weiter noch zu hören.
Vom Büro her drang die markerschütternde Stimme von Mrs Ridgeley herüber. Wie immer begann sie mit einem spitzen Schrei, der in einem regelrechten Donnergrollen endete:«Wer hat meine Blumentöpfe geklaut? Wo ist mein Lieblingsstuhl? Wo ...? Casey! CASEY BLUE! WENN DU MIR WIEDER DAS BÜRO AUSGERÄUMT HAST, NUR WEIL DU DIR EINBILDEST, DASS DU IN BADMINTON STARTEN KANNST, BRINGE ICH DICH UM!»
Die Hope Lane Riding School war allgemein als Hopeless Lane School bekannt. Der an der Hope Lane, einer mit Schlaglöchern gespickten Straße, gelegene Reiterhof mit seinem verrosteten Eingangsportal gab tatsächlich ein trostloses Bild ab. Er war eingeklemmt zwischen einer Industriebrache, randvoll mit giftigen Altlasten, und einer Reihe von Geschäften, die sich in verschiedenen Stadien des Verfalls befanden: ein chinesisches Take-away, ein Herrenfriseurladen und eine Autowaschstraße, die– so war Caseyüberzeugt– nur als Deckmantel für den Handel mit gestohlenen Fahrzeugen herhalten musste. Kein Wunder also, dass die Leute– zumindest außer Hörweite von Mrs Ridgeley– nur von der Hopeless Lane sprachen, wenn sie den Betrieb mit den zwölf Pferden und den drei Eseln meinten, der mit seinen einfachen Stallungen, dem schäbigen Hof und den kraftlosen Bäumen schlecht und recht der fortschreitenden Zubetonierung der Großstadt trotzte.
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