: Owen Matthews
: Winterkinder Drei Generationen Liebe und Krieg
: Ullstein
: 9783843706889
: 1
: CHF 6.60
:
: Erzählende Literatur
: German
: 400
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Owen Matthews, Sohn einer Russin und eines Engländers, erzählt seine eigene Familiengeschichte und ein mitreißendes Stück Zeitgeschichte. Er schildert das Drama Russlands von innen heraus. Ein Bestseller, der in 28 Ländern erschien. An einem Mittsommertag im Jahr 1937 küsste Boris Bibikow seine beiden Töchter zum Abschied und verschwand für immer. Eine der beiden, Mila, verliebte sich viele Jahre später, mitten im Moskau des Kalten Krieges, in einen jungen Engländer und beginnt mit ihm eine gefährliche, leidenschaftliche Affäre. Jahrzehnte später trägt ihr Sohn Owen Matthews die Puzzleteile dieser dramatischen Geschichte zusammen: Er möchte wissen, wie sein Großvater den grausamen Säuberungen Stalins zum Opfer fiel. Wie seine Mutter ihre Kindheit in Waisenhäusern überlebte. Und wie Willkür, bittere Armut und ideologischer Fanatismus jahrzehntelang einen ganzen Kontinent beherrschen konnten. Und schließlich: wie die leidenschaftliche, ungewöhnliche Liebesgeschichte seiner Eltern mitten im Moskau des Kalten Krieges ihr glückliches Ende fand.

Owen Matthews, geboren 1971 in London, studierte Neuere Geschichte in Oxford und begann seine Karriere als Journalist in Bosnien. 1995 ging er als Redakteur nach Moskau und schrieb von dort als freier Korrespondent für The Times, The Spectator und The Independent. Seit 1997 ist er Korrespondent für Newsweek. Er lebt heute mit seiner russischen Frau und zwei Kindern in Istanbul.

Prolog

Die Hand die unterschrieb hat eine Stadt ruiniert…
Hat die Toten des Erdballs verdoppelt, ein Land halbiert.

Dylan Thomas

Auf einem Regal in einem Keller der einstigen KGB-Zentrale in Tschernigow, im Herzen der Ukraine, liegt eine dicke Akte mit einem zerfledderten Deckel aus brauner Pappe. Sie umfasst etwa eineinhalb Kilo Papier, alle Seiten sorg­fältig nummeriert und gebunden. Es geht darin um den Vater meiner Mutter, Boris Lwowitsch Bibikow, dessen Name in eigentümlich kunstvoll gestochener Schrift auf dem Deckel eingetragen ist. Direkt unter dem Namen steht mit Schreib­maschine geschrieben:»Streng geheim. Volkskommissariat für innere Angelegenheiten. Sowjet­feind­liche rechte trotzkistische Orga­ni­sa­tion in der Ukraine.«

Die Akte dokumentiert, wie mein Großvater im Spätsommer 1937 in den Händen von Stalins Geheimpolizei zu Tode kam. Ich fand sie 58 Jahre nach seinem Tod in einem schäbigen Büro in Kiew. Die Akte lag schwer auf meinem Schoß, auf un­heim­liche Weise bösartig, ein geschwollener Tumor aus Papier. Sie roch nach säuerlichem Moschus.

Den größten Teil der Akte machen dünne Formulardurchschläge aus, an vielen Stellen von der Schreibmaschine durchstanzt. Dazwischen immer wieder Zettel aus dickerem Papier. Gegen Ende finden sich einige Blätter weißes Schreibpapier, bedeckt mit einer dünnen Handschrift und zahl­reichen Tintenklecksen – das Bekenntnis meines Großvaters, ein Volksfeind zu sein. Das 78. Dokument ist eine Bestätigung, dass er das Todesurteil gelesen und verstanden hat, das ein Gericht in Kiew unter Ausschluss derÖffentlichkeitüber ihn verhängte. Die daruntergekritzelte Unterschrift ist seine letzte dokumentierte Handlung auf Erden. Ganz am Ende der Akte ist ein schlechter Durchschlag abgeheftet, der die Vollstreckung des Urteils am folgenden Tag, dem 14. Oktober 1937, bestätigt. Der Vollstrecker hat mit einem nachlässigen Kringel unter­zeich­net. Da die sorgfältigen Bürokraten, die die Akte zusammentrugen, vergaßen zu doku­men­tieren, wo er begraben wurde, umfasst dieser Stapel Papier gleichsam die sterblichenÜberreste von Boris­Bibikow.

Auf dem Dachboden der Alderney Street Nr. 7 in Pimlico, London, steht ein schmuckerÜberseekoffer, auf den in ordentlichen schwarzen Buchstaben»W. H. M. Matthews, St Antony’s College, Oxford, ??????« gemalt ist. Darin befindet sich eine Liebesgeschichte. Oder vielleicht eine Liebe.

Der Koffer enthält Hunderte Liebesbriefe meiner Eltern, sorgfältig nach Datum sortiert, aus der Zeit von Juli 1964 und bis Oktober 1969. Viele sind auf dünnem Luftpostpapier geschrieben, andere auf sauberem weißem Schreibpapier. Die Hälfte der Seiten – die Briefe meiner Mutter, Ljudmila Bibikowa, an meinen Vater – sind mit einer geschwungenen, geneigten und doch sehr femininen Handschrift bedeckt. Die meisten Briefe meines Vaters an meine Mutter sind maschinengeschrieben, weil er gern von jedem Brief einen Durchschlag behielt. Doch am Ende hat er immer von Hand eine kleine Notizüber seiner extravaganten Unterschrift eingefügt oder manchmal eine charmante kleine Zeichnung. Die wenigen Briefe, die er mit der Hand geschrieben hat, sind in schmaler, gerader und sehr korrekter kyrillischer Schrift­gehalten.

In den sechs Jahren, die meine Eltern durch die Geschicke des Kalten Krieges getrennt waren, schrieben sie sich jeden Tag, manchmal sogar zweimal täglich. Seine Briefe sind aus Nottingham, Oxford, London, Köln, Berlin, Prag, Paris, Marrakesch, Istanbul, New York. Ihre sind aus Moskau, Leningrad, der Fa­mi­lien­datscha in Wnukowo. Die Briefe schildern jedes Detail, jeden Gedanken im Alltag meiner Eltern. Er sitzt an einem nebligen Abend in einem einsamen möblierten Zimmer in Nottingham und schreibtüber Curry zum Abendessen und unbedeutende akademische Streitereien. Sie verzehrt sich nach ihm in ihrem winzigen Zimmer am Arbat in Moskau und schreibtüber Gespräche mit Freunden, Ballettaufführungen, Bücher, die sie liest.

Manchmal ist ihr briefliches Gespräch so intim, dass ich mir bei der Lektüre ihrer Korrespondenz wie ein Voyeur vorkomme. Manchmal ist ihr Schmerzüber die Trennung so intensiv, dass das Papier zu erzittern scheint. Sie rufen sich winzige Begebenheiten ins Gedächtnis aus der kurzen Zeit im Winter und Frühjahr 1964, die sie gemeinsam in Moskau verbrachten. Sie plaudernüber gemeinsame Freunde und Essen und Filme. Aber vor allem sind die Briefe erfüllt von Verlust, Einsamkeit und einer Liebe so groß, dass sie, wie meine Mutter schrieb,»Berge versetzen und die Welt aus den Angeln heben kann«. Und obwohl die Briefe so schmerzlich sind, glaube ich, dass sie zugleich auch die glücklichste Zeit im Leben meiner­Eltern schildern.

Jetzt, wo ich sie durchblättere, auf dem Fußboden des Dachbodens, der mein Kinderzimmer war und in dem ich 18 Jahre lang unmittelbar neben dem verschlossenen Koffer schlief oder den Stimmen meiner Eltern lauschte, die von unten heraufschwebten, wird mir plötzlich klar, dass diese Korrespondenz ihre ganze Liebe enthält.»Jeder Brief ist ein Stückchen unserer Seele. Sie d&u