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Eines steht fest: Blöde Lehrer sollte man verbieten. Per Gesetz! Aber eigentlich war sie sonst nicht so blöd, eher das Gegenteil, ich meine Frau Schütte, unsere Deutschlehrerin. Sie tummelte sich auf meinem persönlichen Lehrerwertometer von Null bis Zehn immerhin bei Sieben oder Acht. Sie hatte sogar schon mal eine Neun plus, als sie es tatsächlich schaffte, die Klasse für eine Erzählung von Truman Capote zu begeistern. Da hieß die Hauptperson sogarMiriam. Erste Sahne.
Ja, und jetzt lässt sie die oberbescheuerte Referendarin alles vermasseln. Die ist so völlig neben der Spur, dass sie niemalsnicht mitkriegen würde, dass ihre Vorbereitungen bloßer Murks sind. Steht wahrscheinlich viel zu lange vor dem Spiegel, damit ihr perfektes Make-up stimmt, stattüber Motivation und Stundenaufbau nachzudenken. Hat aber angeknabberte Fingernägel, was mich tatsächlich mal gerührt hat. Aber seit dieser völlig verkorksten Stunde nicht mehr. Und Frau Schütte lässt sie voll ins Messer laufen– ist das eine didaktische Maßnahme, wie es so schön heißt? Die Referendarin von Frau Schütte will wohl unbedingt ihre Prüfung vermasseln. Ich kenne nur einen in unserer Klasse, der sich wirklich für ihr Thema:Lyrik zur Veranschaulichung der Kraft der Poesie (so oder soähnliches Zeugs) interessiert, und das bin ich. Sie würde hinten rüberfallen, wenn sie wüsste, dass ich Sylvia Plath kenne und liebe, besonders die Zeilen mit den Sonnenwolken, die Schürzen haben, und mit dem Herz, das durch den Mantel blüht. Ja, und diese Sylvia Plath, die hat sich mit dreißig Jahren umgebracht, das hat Tante Greta mir erzählt. Na bitte, das sagt doch schon allesüber Lyrik aus, das ist einfach ein schwerer Brocken.
Aber sie merkt’s einfach nicht. Irgendetwas will sie in unserer Klasse erzwingen. Alle nagen gerade an einem Gedicht von Paul Celan rum, das einsame Spitze ist, das ich voll kapiere, aber niemals erklären könnte. Alle nagen daran herum wie an einem blitzblanken Knochen, der auch nicht mal ein Fitzelchen von einer schmackhaften Fleischfaser bietet. Und sie kaut uns irgendwas vor, was sie wohl in einer Zahnlücke versteckt hat.
Aber dann! Dann kommt die Hausaufgabe: Wir sollen einenRotkohl durchschneiden, ihn ansehen und anschließend beschreiben. Es soll Poesie werden. Das Wort«Poesie» kann in unserer Klasse schon keiner mehr hören, weil Poesie als Unterrichtsfach einfach grässlich ist und jede Poesie schon im Keim erstickt.Was will uns der Dichter damit sagen? Und wehe, wir haben eine andere Idee, was der sagen wollte, als unsere Lehrer! Oder die Reclam-Heftchen. Oder was in anderen schlauen Büchern so steht. Ob die Dichter sich manchmal in ihrem Grab umdrehen? Aber holla! Manche werden dort unten bestimmt dauerkreiseln. Und jetzt dieserRotkohl!
Die Klasse schweigt, ist total perplex. Alle fallen ins Koma.
Frau Schütte wagt ein hilfloses, aufmunterndes Lächeln.«Traut euch einfach!», sagt sie.
Und da trauen wir uns und prusten los, keiner wagt, den anderen anzusehen.«Rotkohl!», prusten wir, bis wir keine Luft mehr kriegen, so schüttelt es uns.
Später sitze ich in der Küche, Lady liegt neben den Rotkohlhälften auf dem Tisch und schweigt. Und ich begreife auf einmal, dass es tatsächlich Poesie ist, was ich da sehe, und ich meine nicht Lady, die ist sowieso das reinste Gedicht, nein, der aufgeschnittene Rotkohl mit seinen Wellenlinien aus reinem Weiß und tiefem Rot mit diesen Verdickungen und Zartheiten und diesen verschlungenen Aufundabs haut mich fast um. Ich werde zappelig, es ist fast nicht zu fassen, was ich dort sehe, ein geheimnisvolles Muster, eine Ich-weißnicht-was-für-Worte-ich-nehmen-soll-Schönheit, soüberraschend, so fremd, und ich möchte schmerzhaft dringlich dafür die Worte haben, um diesen Zauber zu bannen, zu halten. Und mir kommen fast die Tränen vor Anstrengung und Wut und Verzweiflung, da es mir nicht gelingt. Wie auch! Ich müsste die Wörter ja ganz neu erfinden.
Alles, was ich habe, ist:
Rotkohl
Ich schneide
eine Wunde
mit meinem Messer
So schmerzhaft
So rot
Ich schneide
eine Wunde
in dein Geheimnis
So schmerzhaft
So weiß
Doch nicht das Messer
es sind meine Worte
die deiner Sch&oum