Viereinhalb Wochen vor den Sommerferien
Johannes war ein Sonntagskind. Er wurde an einem Sonntag geboren, an einem Morgen im September, und er lebte ein herrliches Sonntagskindleben, fast fünfzehn Jahre lang, bis zu jenem Nachmittag im Juli, als die Sonne in das Südfenster seines Zimmers schien und mit den Spiegeln an allen Wänden spielte. Nur, Johannes war nicht in seinem Zimmer, er stand im Nachbarhaus neben der Terrassentür, schaute nahezu geblendet in das Licht derselben Sonne, unter der er so lange glücklich gewesen war und die nun auf den geschwungenen Bogen einer Harfe schien. Die Saiten boten dem Licht kein Hindernis, auf den Teppich fiel kaum ein Schatten, aber Johannes starrte durch die zarten Drähte wie durch die Gitterstäbe eines Gefängnisfensters. Er war hier eingesperrt, hier war seine Grenze, an dieser Stelle war sein Sonntagskindleben zu Ende.
Dass erüberhaupt so lange hatte glücklich sein können, verdankte er seinen– nahezu– tadellosen Eltern. Sophia und Stefan waren nett, immer da, wenn man sie brauchte, einsichtig, großzügig und reich. Nichts war an ihnen auszusetzen außer der Tatsache, dass sie ihn Johannes genannt hatten.
Jedes Mal, wenn er sich vorstellte–
«Wie heißt du?»
«Johannes.»
«Und weiter?»
«Beer.»
– war er versucht, zu buchstabieren B-ä-r. Aber so hieß er nicht. Er hieß Beer. B-e-e-r. Johannes Beer.
Nach einer kurzen Pause kam Gelächter. Er sah Spott in den Augen, gebleckte Zähne im Ring der Lippen, sinnlos geöffnete Münder, die keine Worte formten: Gelächter.
Früher war er dabei wohl auch rot geworden, johannisbeer-rot, jetzt passierte ihm das nicht mehr. Man gewöhnt sich an alles oder kann zumindest so tun, als hätte man sich daran gewöhnt. Und je näher die Sommerferien kamen, desto leichter wurde es. Noch viereinhalb Wochen und dann ab nach Spanien, wo niemand, wenn er seinen Namen nannte, an Marmelade dachte.
Es war am frühen Nachmittag in der Physikstunde. Er dachte an Spanien und an Mercedes.
Man lacht nichtüber Leute mit komischen Namen! Das war für Johannes ein Gesetz, und als Mercedes ihm vor vier Jahren vorgestellt wurde, hatte er sich das Grinsen verbissen. Dann lernte er, das‹c› in jenem Mercedes zu zischen wie ein gelispeltes‹s›. Aber erst viel später wurde Mercedes ein Zauberwort. Seit mehr als einem Jahr hatte er dabei nicht mehr an Autos gedacht.
Auf seinem Tisch lag noch sein Biologieheft von der letzten Schulstunde. Darin sagte der Längsschnitt eines menschlichen Kopfes: aaaaaaaaaaaaaa. In den bei der‹a›-Stellung breiten Raum zwischen Zunge und Gaumensegel malte Johannes Mercedessterne, wobei er nicht an Autos dachte.
Mercedes war die Tochter der Familie, die das Haus der Beers an der Costa del Sol betreute und, wenn nicht gerade Ferien waren, auch ganz bewohnte. Wenn die Beers anreisten, zogen sich die Spanier in einen kleinen Teil des Hauses zurück und betraten die