: Rupert Riedl
: Der Verlust der Morphologie
: Seifert Verlag
: 9783902924278
: 1
: CHF 16.00
:
: Naturwissenschaft
: German
: 95
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
In diesem Buch soll vom Zusammenbruch einer Sicht der Welt berichtet werden, von dessen Ursachen und dem Unheil, das dies zur Folge hat. Die Generation unserer Lehrer wusste noch, wie sich wissenschaftliche Zoologie von unwissenschaftlicher unterscheiden sollte: Wissenschaft war Morphologie. Heute findet man in den Vordrucken der Forschungs-Fonds unter einer Hundertschaft von Gebieten Morphologie überhaupt nicht mehr. Als Wandel in der Gewichtung von Wissenschaften scheint das für ein Jahrhundert noch trivial. Der Hergang ist schon interessanter; und gar nicht trivial sind die Folgen, die sich daraus ergeben.

Univ.-Prof. Dr. Rupert Riedl, 1925-2005. Studium der Biologie. 1968 Ruf an die University of North Carolina in Chapel Hill als Professor of Zoology, 1971 Rückkehr nach Wien. Vorstand des Instituts für Zoologie sowie des Instituts für Anthropologie der Universität Wien. Gründung des Konrad-Lorenz-Instituts für Evolutions- und Kognitionsforschung. Zahlreiche Publikationen. Im Seifert Verlag erschienen 'Clarissa und das blaue Kamel' (2003), 'Meine Sicht der Welt' (2004), die Autobiographie 'Neugierde und Staunen' (2004), 'Weltwunder Mensch' (2005) und 'Der Verlust der Morphologie' (2006).

Ablenkungen und Behinderungen


Wenn meine Darstellung richtig ist, bleibt zu fragen, warum sich dann eine an der Welt adaptierte Ausstattung rational so befremdlich ausnimmt. Tatsächlich bedarf es dazu eines Abrisses der Geschichte unserer Sprache, unserer Wissenschaften und unserer Vorstellung von den Kenntnis gewinnenden Mechanismen.

Man wird sehen, dass wir hier von der Empirie einer Welt des Verstandes weiter in eine Welt des reinen Denkens, der so genannten Vernunft oder Rationalität, gehen; von der empirischen zur rationalen Wahrheit. Natürlich ist unsere Ausstattung auch auf die Sprache vorbereitet. Die Sprach-Universalien sprechen dafür. Dass beispielsweise alle Sprachen, auch die ganz exotischen, in Nomen und Verben trennen, weil, wie wir heute wissen, Erstereüber Gestaltwahrnehmung vorbereitet werden, Abläufe aber nicht. Und es ist nicht sehrübertrieben, festzustellen, dass unsere Kinder fast nur mehr Vokabeln lernen.

Da aber endet unsere Ausstattung; was darüber aufbaut, ist kulturabhängige Konstruktion, die Gefahr läuft, mit der außersubjektiven Wirklichkeit verwechselt zu werden.

Die Falle des Sprachdenkens


Die Sprachfamilie, dieüber das so genannte»westliche Denken« heute alle Wissenschaften beherrscht, ist von der griechischen Syntax beeinflusst. Sie hatte die»copula« einzuführen, im Deutschen die Worte»ist« und»sein«, die, selbst inhaltslos, Nomen und Verb bzw. Adjektiv zu verbinden haben. Das suggerierte bereits den griechischen Aussagesatz:»Sokrates ist sterblich«; obwohl er ein Halbgott gewesen sein könnte. Und daran den Schluss:»Sokrates ist ein Mensch, alle Menschen sind sterblich, ergo ist Sokrates sterblich«; obwohl niemand hätte angeben können, wo zwischen allen Halbgöttern, deren Kindern und Kegeln die Unsterblichkeit endet.

Das suggeriert den»wahrheitserweiternden Schluss«, von dem wir hinnehmen müssen, dass er nicht mehr als seinen Ansatz verbürgen kann.

Es geht nun um den Beweis, der in der Praxis aus der Juristerei, von der Mathematikübernommen wurde. Gemeint ist die Rückführbarkeit einer Behauptung auf eine als wahr anerkannte Grundannahme. Unter den Mängeln möglicher Beweise interessiert hier die»petitio principii«, die»Erschleichung des Beweisgrundes«, die schon die antiken Philosophen bedachten, die Unbeweisbarkeit des Ansatzes. Denn was sollte in dieser Welt schon als unumstößliche Gewissheit gelten?

Im nächsten Schritt legt sich die Hoffnung nahe, die Sprache von Antinomien, von inneren Widersprüchen zu befreien: wenn etwa ein Kreter sagt:»Alle Kreter sind Lügner.« Es sollte in der Sprache nur wahr und falsch geben, ein Drittes sollte nicht gelten,»tertium non datur«. Wobei wir vor Augen haben, dass wir uns in Wahrheit allen Dingen dieser Welt mit Abstufungen von Ungewissheiten nähern und höchstens für unsere Existenz gerade zureichende Gewissheit erreichen können.

Das leitet weiter hin zur Vermutung, man könne auch den komplexen Dingen dieser Welt begrifflich durch die Schärfung der Diagnose näher kommen; durch die Einengung der Grenzen der entsprechenden Begriffe. Es entsteht damit gedanklich eine Art Ladensystem, das dazu zwingt, Begriffe für reale Dinge in die eine oder die andere Lade abzulegen. Das entspricht der realen Welt nun gar nicht. Fast nie ist eine Gruppe von Dingen durch ein einziges Merkmal zu bestimmen.

Diesen Fehler macht zum Beispiel das Chinesische nicht. Begriffe werden durch die Gewichtung ihrer Merkmale verdeutlicht. Das führt vom Sprach- zum Kulturrelativismus; und man kann fragen, warum eine Kultur mit so wenig adaptierter Sprache die Welt erobert hat. Wahrscheinlich durch die Suggestivität der Vereinfachung, die linkshemisphärisch bewusst verfolgbar, leicht zu unterrichten und rational so einleuchtend erscheint; und die daraus folgende Unbedenklichkeit entfaltbarer wirtschaftlicher und militärischer Macht.

Dabei kann jeder Natur- und Kulturhistoriker in seiner Praxis die Erfahrung machen, dass sich scharfe Definitionen als irreführend erweisen. Schon der Systematiker weiß, dass Merkmale, die eine Einheit von Organismen allein bestimmen können?—?er nennt diese»differential-diagnostisch«–, Ausnahmen sind. Es dominieren die Formen der selektiven Merkmale. Schon eine so geschlossene Gruppe wie die Säugetiere ist weder durch das Säugen noch durch das Säugerhaar zu bestimmen, denn die Schnabeltiere legen Eier und die Bartenwale besitzen nicht ein einziges Haar.

Und bei der Bestimmung etwa der Hochkultur, der Gotik oder der Aufklärung wird man das noch deutlicher vor Augen haben. In Wahrheit ist die Welt benennbarer Dinge voll der unterschiedlichenÜbergänge, die sich wie Hügel oder schroffe Gipfel einer Landschaft gegen ihre verschiedenen Nachbarn auch verschieden voneinander abgrenzen.

Man möge dieser Falle des Sprachdenkens eingedenk bleiben, wenn es nun darum gehen muss, unser Ver