1. Kapitel
Fremdes Land
Ursprünglich kommen wir aus Gliwice, einer Stadt im südlichen Teil von Polen im oberschlesischen Industriegebiet. Unsere ganze weitläufige Familie lebt hier oder in der Nähe, nur die Eltern meines Vaters sind früh nach Deutschland gegangen, für Rentner war das damals möglich. Meineältere Schwester Justyna und ich sind in Gliwice geboren und zu meiner Geburt befragt, zuckt mein Vater nur mit den Schultern und murmelt:»Alles ganz normal, ganz normales Kind eben.« Ich hab also nicht direkt»Ball« geschrien, als ich das Licht der Welt erblickte. Aber die Leidenschaft zum Sport war mir in die Wiege gelegt. Mein Vater spielte Fußball in der ersten Liga in Polen, meine Mutter war Handballerin in der Nationalmannschaft. Es ist wohl ganz natürlich, dass so was dann auch weitergegeben wird. Wenn beide Eltern Musiker sind, wird für das Kind von Geburt an die Musik immer ein großes Thema sein, und es ist sehr wahrscheinlich, dass es in seinem Erwachsenenleben etwas damit machen wird. Meine Eltern waren und sind durch und durch Sportler. Also lag das auch bei mir nahe.
Die ersten zweieinhalb Jahre meines Lebens verbrachte ich in Polen, in einem vierstöckigen Mietshaus. Ich machte meine ersten Schritte dort, saß auf dem Schoß der geliebten Oma und lernte auf Polnisch zu sagen, was ich wollte und was nicht. Hier war mein Zuhause, bis meine Eltern beschlossen, mit uns nach Deutschland auszusiedeln. Die Eltern meines Vaters lebten schon dort in Bergheim in der Nähe von Köln. Mein Vater hatte aufgehört Fußball zu spielen und das bedeutete damals in Polen, ein privilegiertes Leben aufzugeben. Fußballer bekamen besondere Wohnungen zugewiesen, waren hoch angesehen und lebten mit den Industriellen in einem Viertel. Aber das war vorbei. Meine Mutter hatte mit dem Handball schon aufgehört, als sie mit meiner Schwester schwanger war, und so versprachen sie sich bessere Verdienstmöglichkeiten, ein angenehmeres Leben und mehr Freiheit. Sie hatten fest vor, die Chance zu ergreifen und auch in Deutschland zu bleiben.
So eine Entscheidung ist weitreichend und hat Konsequenzen, die man sich vielleicht so erst mal gar nicht vorstellen kann. Sicher haben meine Eltern sich das nicht leicht gemacht, aber davon weiß ich nichts mehr. Ich war zweieinhalb und alles, was ich hier berichte, weiß ich selbst nur aus Erzählungen. Gefühle, die ich damals vielleicht hatte, kann ich heute nur vermuten. Jedenfalls erzählten meine Eltern allen, dass wir in den Urlaub nach Deutschland fahren würden. Ausreisen war nicht erlaubt, aber wenn man Verwandte hatte, durfte man sie besuchen. Selbst meine Schwester, damals sieben, wusste nicht, dass wir dabei waren, unsere Heimat zu verlassen. Nur der Chef meines Vaters hat ihn wohl durchschaut:»Ja, ja, du kommst doch nicht mehr zurück!« Viele Polen haben das damals so gemacht und alles stehen und liegen gelassen.
Wir packten unsere sieben Sachen, verabschiedeten uns von Freunden, Verwandten und unserer Heimat und landeten im damaligen Grenzdurchgangslager Friedland.
Es war vollkommenüberfüllt, alle redeten in Sprachen, die ich nicht kannte, alle waren wie wir entwurzelt und fremd. Es gab Essen, das wir so nicht gewohnt waren, und ein eigenes Zimmer hatten wir auch nicht, weil einfach nicht genug Platz da war für die vielen Menschen, die in Deutschland bleiben wollten. Im Nachhinein war das ein Glück für uns, da auch den Angestellten dort die Situationüber den Kopf wuchs. Es wurde herumgefragt, wer Verwandte oder Bekannte in Deutschland hatte, ob jemand einen Platz hätte, wo er hinkönnte, und wir meldeten uns sofort. Schließlich gab es Oma Helene und Opa Josef Podolski in Bergheim. Kurz darauf bekamen wir alle Papiere und sind zu den Eltern meines Vaters weitergereist. Sie waren schon Jahre vor uns nach Deutschland gegangen, in der Hoffnung, dass ihre Kinder folgen würden. Sie kannten sich also schon aus und wussten, was alles zu tun war. In Gliwice, damals noch Gleiwitz, als Deutsche auf die Welt gekommen und auf deutsche Schulen gegangen, fühlten sie sich hier zu Hause, denn Oberschlesien gehörte erst 1945 nach dem Zweiten Weltkrieg zu Polen. Mein Opa Josef kam erst 1947 aus dem Krieg zurück, eigentlich nur, um seine Papiere zu holen. Aber die Polen ließen ihn nicht mehr ausreisen. Und so verlief es bei meinen Großeltern dann genau andersrum als bei uns: Sie mussten Polnisch lernen.
Es dauerte eine Weile, bis wir eine eigene Wohnung fanden. In der Zeit wohnte ich mit meiner Mutter bei der Tante, die auch schon in Deutschland lebte, meine Schwester und der Vater kamen bei den Großeltern unter.
Die Familie lebte also getrennt. Wir hatten kaum Geld, keine gemeinsame Wohnung und verstanden nicht e