: Judith Brandner
: Zuhause in Fukushima Das Leben danach: Porträts
: Verlag Kremayr& Scheriau
: 9783218009164
: 1
: CHF 15.20
:
: Biographien, Autobiographien
: German
: 160
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Kei Kondo hat seinen Bio-Bauernhof verloren. Sadako Monma musste ihren Kindergarten schließen. Der Arzt und Diplomat Ryohei Suzuki kehrte nach der Katastrophe nach Fukushima zurück, um im dortigen Krankenhaus zu arbeiten. Judith Brandner erzählt in diesem Buch in sensiblen Porträts, wie sich die Katastrophe von Fukushima auf die dort lebenden Menschen auswirkt. Manche haben aus diesem gravierenden Einschnitt neue Energien und Lebenskraft geschöpft, andere sind nahe daran, an der Situation zu zerbrechen. Sie sind Flüchtlinge im eigenen Land, persönliche und berufliche Einschränkungen gehören heute zu ihrem Alltag. Manche sind KünstlerInnen, die ihre Bekanntheit dafür einsetzen, um den Menschen in der Region zu helfen. Auch Journalisten sind unter den Porträtierten, einer arbeitet heute als Undercover-Journalist, u.a. als Arbeiter im Kraftwerk Fukushima, um über die tatsächliche Situation berichten zu können. Es sind Geschichten, die man nicht so schnell vergisst.

Judith Brandner, Japanologin, Journalistin und Autorin. Seit 1984 Radiojournalistin und Radiomacherin, hauptsächlich für ORF/Ö1, aber auch für SRF/DRS2, SWR2, Deutschlandradio und HR. Moderiert regelmäßig die Ö1-Sendung 'Radiokolleg' und gestaltet Sendungen für Wissenschaft, Politik, Kultur und Feature. Inhaltliche Schwerpunkte: Japan, Gesellschaft, Zeitgeschichte/Aufarbeitung der NS-Zeit.

F U K U S H I M A


DIE BIOBÄUERIN SACHIKO SATO


Wir sitzen in ihrem ungeheizten Büro, ebenerdig in einem abweisenden Betonbau in Fukushima-Stadt, und wärmen uns bei einer Tasse Tee. Welch ein Kontrast zu dem schönen alten Bauernhof, auf dem Sachiko Sato vorher gelebt hat, ein Holzhaus, wie es nicht mehr oft zu finden ist in Japan, mit dunkel glänzenden Fußböden, umgeben von Reis- und Gemüsefeldern und einem Garten. Felder und Garten sind nun von Unkrautüberwuchert.

Yamanami heißt der Bauernhof von Sachiko Sato, ein Ort, an dem sich die Berge wie Wellen aneinanderreihen. Sie hat es geliebt, in der Natur und mit der Natur zu leben und auf ihrem Hof den Wechsel der Jahreszeiten zu beobachten: die Blüte der Bergkirschen im Frühling und das sich täglich verändernde zarte Grün auf den Feldern und Wiesen.„Mein Herz machte Freudensprüngeüber die Früchte der Erde, die da heranzuwachsen begannen“, schreibt sie in ihrem im Frühjahr 2013 erschienen Buch„Unter dem Himmel von Fukushima“. Es beginnt mit einer Ode an die Jahreszeiten.„Im Sommer aßen wir täglich das Gemüse, das wir im Garten ernteten. Ich bereitete Köstlichkeiten wie Misosuppe mit Auberginen und grünen Bohnen oder eingelegte Gurken zu.“ (Übersetzung J.B.) Den Herbst, schreibt sie, verbinde sie mit den reifen Reisähren, vor allem aber mit dem Duft vonOsmanthus fragrans, der gelbblühenden Duftblüte aus der Familie derÖlbaumgewächse. So süß und betörend ist deren Duft, dass er die heftigen Beschwerden mindern konnte, unter denen sie am Anfang ihrer ersten Schwangerschaft litt. Die Chinesen, die die Duftblüte seit mehr als zweitausend Jahren kultivieren, mischen die Blüten grünem Tee bei und erhalten so eine besonders edle Sorte. Im Winter schließlich, wo in der Tohoku-Region im japanischen Norden viel Schnee liegt, ruhen die Reisfelder. Da gilt es, für ausreichenden Vorrat an Brennholz zu sorgen, Reparaturarbeiten an Haus und Hof zu machen und die Vorbereitungen für Neujahr zu treffen: Reis wird gestampft und zumochi verarbeitet, zu klebrigen Reisküchlein, die traditionell zu Neujahr gegessen werden. Das ist der Zyklus des einfachen bäuerlichen Lebens, das Sachiko Sato Jahr für Jahr geführt hat, mit ihrem Mann und ihren fünf Kindern.„Es war ein Leben inmitten der Natur, und ich konnte täglich auf meiner Haut spüren, wie wichtig das Leben ist“, schreibt sie.

Der 11. März 2011 war eine Zäsur, die diesen Kreislauf unterbrochen hat. Bald danach habe sie die Veränderungen bemerkt, mit denen die Natur auf die Katastrophe reagierte, schreibt Sachiko Sato in ihrem Buch:„Es war Frühling, doch nur wenige Schwalben waren gekommen! Es war Sommer, doch ich hörte den Ruf der Zikaden kaum. Und im Herbst blieben auch die Spatzen aus, die sich sonst in den abgeernteten Reisfeldern tummelten.“ Soähnlich, assoziiert Sachiko Sato, sei es auch damals gewesen, als die Bucht von Minamata mit Quecksilber vergiftet war (siehe auch Seite 115 ff.):„Zunächst erkrankten die Katzen, dann litt ein großer Teil der Bevölkerung an der Minamata-Krankheit.“ Und soähnlich wie die Regierung seinerzeit in den 1950er- und 1960er-Jahren verhalte sich das offizielle Japan auch heute im Fall Fukushima: Die Regierung verleugne, dass die Menschen massiv geschädigt worden sind.„Japan ist ein Land“, sagt Sachiko Sato,„das immer und zu jeder Zeit die Wirtschaft und ihre Interessenüber das Wohl der Menschen stellt. Japan ist ein Land, das sich für die Gewinne der Großkonzerne stark macht, anstatt das Leben der Bevölkerung zu schützen und alles daranzusetzen, um die Zukunft der Kinder zu sichern.“ Sie erkenne jetzt hinter der Katastrophe von Fukushima auch dieselben Strukturen wie hinter dem Kupferminenskandal von Ashio: Die Kupfermine von Ashio in der Präfektur Tochigi war ab 1880 Schauplatz der ersten Umweltkatastrophe in Japan. Giftige Abwässer aus der Mine gelangten in zwei nahe gelegene Flüsse. Innerhalb eines Jahrzehnts starb die gesamte Fischpopulation der Flüsse. Dreitausend Fischer verloren ihren Job. Giftschlamm aus der Mine verwandelte die einst an Reisfeldern reiche Gegend in eine unfruchtbare Mondlandschaft. Die Abholzung der umliegenden Wälder zur Expansion der Mine führte zu Entwaldung und in Folge zuÜberflutungen. 1907 kam es zu Aufständen der Minenarbeiter. 1973 (!) wurde die Mine geschlossen. Es ist dasselbe Verhalten wie nach der Quecksilberverseuchung in der Bucht von Minamata, nach den Tragödien von Hiroshima, Nagasaki oder Bikini (siehe Seite 23).„Mit Fukushima“, meint Sachiko Sato,„wird uns abermals vor Augen geführt, worüber Rachel Carson schon Anfang der 1960er-Jahre in ihrem Buch ,Der Stumme Frühling‘ geschrieben hat: Der Tag wird kommen, an dem es nichts Lebendiges mehr auf der Welt geben wird, sondern nur mehr Schweigen.“ Das 1962 unter dem Titel„The Silent Spring“ erschienene Werk der US-amerikanischen Zoologin und Wissenschaftsjournalistin gilt bis heute als Bibel derÖkologie-Bewegung. In die Geschichte einer blühenden Stadt verpackt, in der sich eine seltsame, schleichende Seuche ausbreitet, stellt Rachel Carson erstmals den Einsatz chemischer Pflanzenschutzmittel in Frage und macht deren schädliche Auswirkungen auf Mensch und Natur deutlich.

Unser Treffen im kalten Büro in Fukushima-Stadt ist eine ernüchternde Begegnung; vom Elan der optimistischen Sachiko Sato, mit der ich im Herbst 2011 zum Interview ins japanische Parlament marschiert war, ist nichts mehr zu spüren. Damals war sie voller Hoffnung auf den baldigen Atomausstieg in Japan gewesen. Damals hatte sie auch noch an einen tieferen Sinn der Atomkatastrophe geglaubt, einen Sinn, den sie von der Bedeutun