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Als sich lange Finger um seinen Hals schlossen, ließ Barney seine Coladose fallen. Die Rollen seiner Skates rutschten weg, und er wäre beinahe hingefallen. Zwei starke Hände hielten ihn aufrecht.
»Immer locker bleiben, Barney-Boy. Mach dir nicht ins Hemd.«
Oh, Scheiße-Scheiße-Scheiße! Während jeder einzelne Nerv kribbelte und ihm am ganzen Körper der Schweiß ausbrach,überlegte Barney, ob recht gehabt zu haben ein Trost dafür war, wie ein absoluter Volltrottel dazustehen. Was zum Teufel zog Jorge hier ab?
»Idiot«, brachte er hervor.
Jorge, der große Bruder seines besten Freundes und der unumstrittene Anführer der Gang, hatte sich auf dem Dach des Fahrradschuppens versteckt. Damit niemand sah, dass er bestimmt knallrot im Gesicht war und dass er Schleim ausgerotzt hatte, bückte sich Barney und hob die nunmehr verbeulte Coladose auf.»Wie lange hast du da oben gesessen?«, fragte er, nachdem er sich die Nase amÄrmel abgewischt und sich aufgerichtet hatte.
»’n paar Minuten.« Jorge versuchte gar nicht erst, sich das Grinsen zu verkneifen.»Hab dich schon drüben an der Ecke gesehen.«
Okay, tief durchatmen. Es war dunkel, also würde vielleicht niemand den Schweiß auf seiner Stirn bemerken. In die Hose hatte er sich nicht gemacht, Gott sei Dank.»Hattest du’ne Probe?«, erkundigte er sich und versuchte, ganz normal zu klingen.
Jorge nickte.»Mum hat gesimst, ich soll auf dem Nachhauseweg Harvey abholen. Komm.«
Jorge sprang auf sein Skateboard, stieß sich ab und sauste auf die anderen zu. Barney hatte den Eindruck, als lasse er jede Menge aufgestauter Energie in seinem Kielwasser zurück, was selbst für Jorge ungewöhnlich war. Harvey hatte sich in letzter Zeitöfter beschwert, dass sein Bruder immer völligüberdreht sei, wenn er von seinen Theaterproben kam. Dass er mehrere Stunden brauche, bloß um wieder runterzukommen. Wenn er regelmäßig solche Nummern abzog wie eben, konnte Barney verstehen, dass Harvey genervt war.
Der Rest der Gang sah zu, wie zuerst Jorge und dann Barney die Rampe heraufkamen.
»Deine Haare sind ja ganz grün«, bemerkte Hatty.
Jorge warf den Kopf zurück und strubbelte sich durch die normalerweise silberblond gebleichten kurzen Stachelhaare.»Die von der Maske wollten’s mal ausprobieren«, als wäre es vollkommen normal, dass»die von der Maske« sich für das Haar eines Vierzehnjährigen interessierten.»Grüne Haare, passend zum grünen Kostüm. Die wollen da auch noch Blätter reinstecken. Die beiden anderen sind voll angepisst, die haben nämlich dunkle Haare, und bei denen sieht das einfach nicht so geil aus.«
Jorge wollte Schauspieler werden. Vor ein paar Monaten hatte er mit Erfolg für ein Stück im West End vorgesprochen. Zu seinemÄrger jedoch musste er sich die Rolle mit zwei anderen Jungen teilen, weil er erst vierzehn war. Zwei Jungen, die angeblich nicht mal einen Bruchteil seines Talents besaßen.
»Hab ich was verpasst?«, wollte Barney wissen. Ihm war klar, dass er schon vor einer Stunde hier hätte eintrudeln sollen.
»Nö«, antwortete Harvey.»Lloyd hat das Darts-Turnier gewonnen, aber dann hat Sam mit einem von den Dingern nach Tom Rogers Arsch geworfen, und wir sind freundlich aufgefordert worden, doch bitte zu gehen.«
»Euch kann man echt keine fünf Minuten allein lassen«, bemerkte Jorge.
»Habt ihr Hausverbot gekriegt?«, wollte Barney wissen.
»Die haben gesagt, sie wollen uns den Rest der Woche nicht mehr hier sehen«, erklärte Lloyd, ein dunkelhaariger Junge mit großen Augen, der mit Jorge in eine Klasse ging.»Und dass wir gleich nach Hause gehen und nicht noch draußen rumhängen sollen.«
»So wie jetzt?«, fragte Barney.
»Ja«, bestätigte Lloyd. Seine braunen Augen waren weit aufgerissen und sehr ernst.»So hier rumzuhängen wie jetzt, das wäre echt verkehrt.«
Hatty erhob sich wortlos und flitzte die Rampe hinunter; sie war die beste Rollerskaterin der Gang, vielleicht mit Ausnahme von Barney. Sie schoss an der anderen Seite der Rampe hinauf und fing sich an der Barriere ab. Lloyd, Sam und die beiden Brüder betrachteten eine verbogene Rolle an Harveys Skateboard. Nur Barney sah, wie Hatty den Kopf hob wie ein Hund, der gerade etwas gewittert hat. Sie schaute auf etwas, das ein Stück entfernt war. Nachdem sie ein paar Sekunden lang dorthin gestarrt hatte, machte sie kehrt und kam zu den Jungen zurückgefegt.
»Ratet mal, wer wieder da ist«, sagte sie mit gedämpfter Stimme.
Die anderen drehten sich allesamt um, einige sahen Hatty an, die anderen versuchten auszumachen, was sie gesehen hatte.
»Wo denn?«
»Du hast mal wieder geträumt, Hats.«
Barney blickte an den Wirtschaftsgebäuden der Fabrik vorbei, die jetzt als Lagerräume dienten,über die Mauer und das Eisengitter hinaus in die Straßen von South London. Auf der anderen Straßenseite standen Reihenhäuser, dahinter ragte das riesige leere Haus mit dem verzierten Mauerwerk und den leeren, schwarzen Fenstern auf. Er hörte auf zu blinzeln, hörte auf, nach irgendetwas Bestimmten Ausschau zu halten, und wartete, ließ zu, dass sich der Fokus seines Blicks veränderte, bis er nicht mehr die Umrisse der Gebäude sah, den Verlauf der Bürgersteige, die Skyline. Wie er es vorher gewusst hatte, fingen die Dinge vor ihm an, sich aufzulösen, ihre Struktur zu verlieren und sich auf ihre simpelsten Formen zu reduzieren. Er wart