Was Costas?
Um halb acht ist Treffpunkt vor Costas’ Tür. Jutta wartet wie immer draußen, weil sie so gern als komplette Familie ins Restaurant geht. Als ihre Kinder um die Ecke kommen, strahlt sieübers ganze Gesicht. Allerdings nur, bis sie sieht, dass Anna sich gerade den Rest eines Franzbrötchens in den Mund stopft.
»Anna! Das muss doch nicht sein! Wir essen doch gleich.«
Anna findet eher, dass dieses besorgte Herumkommentieren nicht sein muss, sie hat schließlich keinen Marder in den Ranzen eines Grundschülers pinkeln lassen, sondern nur ein Franzbrötchen gegessen. Außerdem ist sie neunzehn.
»Mom, ich bin volljährig! Ich kann viel ausgeflipptere Sachen machen, als vor dem Essen was zu essen.«
»Ich mein ja nur.« Jutta meint eigentlich, dass Anna ein bisschen auf ihre Figur achten sollte, weil sie sonst vielleicht gemobbt und in eine Essstörung getrieben wird, ist aber viel zu besorgt, dass ein solcher Kommentar Anna in eine Essstörung treiben würde. Keiner sagt mehr was.
Zum Glück macht Lars aus Langeweile ein paar Tricks auf seinem Skateboard. Alter, denkt Anna. Ihr Bruder sieht wirklich immer perfekt aus. Seine Haare haben nicht mal eine Frisur, sie sind einfach nur mittelblond und mittellang, aber selbst das wirkt wie das Werk eines New Yorker Haarstylisten. In seinem Gesicht ist alles symmetrisch, aber nicht so langweilig symmetrisch, dass man vergessen hat, wie er aussieht, sobald man wegguckt, sondern so, dass man verzückt ist von seiner geraden Nase, seinem schön geschwungenen Mund und von seinen grünen Augen, aus denen er immer ein bisschen verwirrt guckt. Damit und mit seinem durchtrainierten Körper würde er perfekt in eines dieser Musikvideos passen, in denen eklig schöne Menschen im Gegenlicht der untergehenden Sonne eine lässige und trotzdem ausgeflippte Party feiern. Lars würde erst neben dem Pool ein paar Tricks auf seinem Skateboard machen und dann mit der schönsten Arschbombe der Welt in den Pool springen. Mann, selbst wenn er einen epileptischen Anfall hätte, würden noch alle denken, es wäre ein cooler, neuer Streetart-Tanz.
Anna fällt das Casting ein, das mal wieder in die Hose gegangen war. Mit seinem Aussehen hätte ich den Job bestimmt bekommen, denkt sie und starrt ihren Bruder an. Obwohl, mit seinem Stock im Arsch auch wieder nicht. Lars ist schüchtern, wobei schüchtern die Untertreibung des Jahrhunderts ist. Sobald er mit Fremden sprechen soll, kann er allerhöchstens noch ein paar unverständliche Silben stammeln und nimmt eine Gesichtsfarbe an, die nicht mehr rot ist, sondern schon ins Bläuliche geht. Dazu fängt er an zu schwitzen. Auf seiner Oberlippe bilden sich sofort dicke Perlen, und unter den Armen läuft der Schweiß in solchen Strömen, dass man darunter Kleintiere duschen könnte. Schuld an diesem Komplex ist die Stimme, die er als Kind hatte. Er hörte sich an wie Tweety, der eine Opernsängerin nachäfft. Oder wie Bart Simpson, der mit Heliumüberdosis aus einer Blechdose um Hilfe ruft. Oder so. Auf jeden Fall klang seine Stimme so sonderbar, dass alle, die ihn das erste Mal hörten, in brüllendes Gelächter ausbrachen. Für Jutta, Alexander und Anna wurde sie irgendwann normal, aber selbst Rose, die ihn oft sah, hat nie geschafft, ernst zu bleiben. Sie nannte ihn immer Quietschboy, und wenn die anderen ihr gesagt haben, sie soll damit aufhören, ihn zu verarschen, meinte sie, sie könne damit nicht aufhören, weil Lars für sie so etwas sei wie ein akustischer Verkehrsunfall.
Jutta und Alexander haben alles versucht, damit Lars seine schlimme Stimme und seine Schüchternheit loswurde. Sie sind mit ihm zur Sprachtherapie gegangen, aber selbst der Therapeut konnte sich kaum das Lachen verkneifen, ganz abgesehen davon, dass dieÜbungen nichts brachten. Und die Psychologin, die Tipps geben sollte, wie sie Lars’ Selbstbewusstsein aus dem Keller holen konnten, war auch nicht erfolgreich. Lars blieb vor Fremden stumm und kriegte sofort Panik, wenn er doch mal etwas sagen musste. Anna weiß nicht, wie oft sie auf dem Schulhof die Kinder, die sichüber ihren kleinen Bruder lustig gemacht haben, geschubst oder geboxt hat. Seit Lars’ Stimmbruch hört er sich ganz normal an, aber leider hat das an seiner Schüchternheit nichts geändert. Er konnte sie nie loswerden. Noch immer hat er kaum Freunde, und noch immer läuft er blau an, wenn ihn ein Fremder nach dem Weg fragt.
Jutta, die wie ihre Tochter nicht die Augen von Lars lassen kann, denkt so ziemlich das Gleiche. Er sieht zwar schon aus wie ein Mann, einer, der sogar die Fantasien ihrer Freundinnen auf nicht immer jugendfreie Weise anregt, aber durch seine Schüchternheit und die Tatsache, dass er ja auch gerade erstsiebzehn ist, sieht sie in ihm immer etwas Scheues, Verletzliches. Einen kleinen Vogel vielleicht. Oder einen Babywaschbären.
»Achtung, Chef kommt!«, brüllt Alexander seine Frau und seine Kinder aus der Szene. Er kommt mit beton