: Nathaniel Hawthorne
: Jürgen Brôcan
: Der scharlachrote Buchstabe Roman
: Carl Hanser Verlag München
: 9783446245419
: 1
: CHF 11.40
:
: Hauptwerk vor 1945
: German
: 448
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Amerika im 17. Jahrhundert: Eine Frau, des Ehebruchs schuldig, steht am Schandpfahl und verrät nicht, wer der Vater ihrer Tochter ist. Die gestrenge puritanische Obrigkeit verurteilt sie, als Zeichen ihrer Schande lebenslang einen scharlachroten Buchstaben zu tragen. Die Folgen dieser übertriebenen Moralvorstellungen und die Mechanismen der gesellschaftlichen Ausgrenzung schildert Nathaniel Hawthorne mit psychologischer Raffinesse. Sein Roman ist einer der wichtigsten amerikanischen Klassiker des 19. Jahrhunderts, als sich das moderne Amerika mit dem Blick in seine Geschichte neu erfand. Mit seiner glasklaren Neuübersetzung gibt Jürgen Brôcan dem Roman eine Gestalt für heutige Leser; im Anhang erläutert er die historischen und literarischen Hintergründe.

Nathaniel Hawthorne (1804-1864) lebte einen großen Teil seines Lebens in Salem (Massachusetts) und Umgebung. Seine Romane und zahlreichen Erzählungen erweisen ihn als einen der wichtigsten amerikanischen Autoren der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts.

Das Zollhaus


Als Einleitung
zum»Scharlachroten Buchstaben«

Etwas merkwürdig ist es schon, daß sich– trotz meiner Abneigung, am Kaminfeuer oder im Freundeskreis allzu viel von mir und meinen Angelegenheiten zu reden– zweimal in meinem Leben ein autobiographischer Impuls meiner bemächtigte und ich mich an dieÖffentlichkeit wandte. Das erste Mal ist drei oder vier Jahre her, damals beehrte ich den Leser– unverzeihlicherweise und aus keinem erfindlichen Grund, den sich der nachsichtige Leser oder der zudringliche Autor ausmalen könnte– mit der Beschreibung meines Lebenswandels in der Stille eines Alten Pfarrhauses. Und jetzt knöpfe ich mir das Publikum erneut vor, denn ich hatte das Glück, beim damaligen Anlaß ganz unverdient ein, zwei Zuhörer zu finden, und spreche von meiner dreijährigen Erfahrung im Zollhaus. Getreulicher ist dem Beispiel des berühmten»P. P., Gemeindeschreiber hierorts« niemals gefolgt worden. In Wahrheit jedoch wendet sich der Autor, wenn er seine Blätter in den Wind streut, wohl nicht an die vielen, die sein Buch beiseite schleudern oder nie in die Hand nehmen werden, sondern an die wenigen, die ihn besser verstehen als die Mehrzahl seiner Schul- oder Lebenskameraden. Tatsächlich tun manche Autoren weit mehr als dies und schwelgen in solch tiefer Vertraulichkeit der Enthüllung, wie sie sich in angemessener Weise einzig und allein an das eine Herz, an den einen Geist der vollkommenen Anteilnahme richten kann, als fände das gedruckte Buch, aufs Geratewohl in die weite Welt geworfen, unzweifelhaft die abgetrennte Hälfte vom Wesenskern des Autors und vollendete in dieser Vereinigung seinen Lebenskreis. Es schickt sich allerdings wenig, alles auszusprechen, selbst wenn wir unpersönlich reden. Da die Gedanken jedoch gefrieren und der Ausdruck taub ist, solange der Sprecher nicht in echter Beziehung zu seinen Zuhörern steht, mag es verzeihlich sein, wenn man sich vorstellt, ein Freund, ein liebenswürdiger, besorgter, wenngleich nicht besonders enger Freund, lauschte unserer Rede; und wenn dann die angeborene Zurückhaltung durch dies warme Mitempfinden aufgetaut ist, können wir von den Gegebenheiten ringsum und sogarüber uns selbst plaudern, aber das innerste Selbst noch immer hinter einem Schleier verbergen. Bis dorthin und in diesen Grenzen darf, wie mir scheint, ein Schriftsteller autobiographisch sein, ohne die Rechte des Lesers oder seine eigenen zu verletzen.

Es wird sich auch zeigen, daß diese Skizze des Zollhauses ihren rechten, in der Literatur immer schon anerkannten Sinn hat, da sie erklärt, auf welche Weise ein Großteil der folgenden Seiten in meinen Besitz gelangt ist, und die Authentizität der in ihnen enthaltenen Erzählung belegt. Tatsächlich ist dies– das Verlangen, mich in die wahre Position allenfalls als Herausgeber, und wirklich kaum mehr, der weitschweifigsten meiner Geschichten zu setzen, aus denen dieser Band besteht–, tatsächlich ist dies und nichts anderes der wahre Grund dafür, daß ich eine persönliche Beziehung zum Publikum aufnehme. Um dieses oberste Ziel zu erreichen, schien es erlaubt, durch zusätzliche Striche ein blasses Abbild einer bislang nicht dargestellten Lebensweise zu geben, zusammen mit ein paar darin handelnden Personen, von denen eine zufällig der Autor ist.

In meiner Heimatstadt Salem, am Ende dessen, was vor einem halben Jahrhundert in den Tagen des alten King Derby ein geschäftiger Pier war– den aber jetzt die Last verfallener hölzerner Lagerhäuser drückt und der nur wenige oder gar keine Anzeichen von Handel aufweist, außer vielleicht mitten auf seiner melancholischen Länge eine Bark oder Brigg, die Felle löscht, oder etwas näher heran ein Schoner aus Neuschottland, der eine Feuerholzladung auswirft–, am Ende dieses brüchigen, oftüberfluteten Piers also, an dessen Fundament und hinter der Häuserreihe man die Spur vieler träger Jahre in einem Streifen mageren Grases erkennt–, hier steht ein geräumiges Backsteingebäude, dessen Frontfensterüber diese nicht besonders erbauliche Aussicht hinweg aufs Hafenbecken blicken. Jeden Vormittag flattert oder hängt auf dem höchsten Punkt seines Daches für exakt dreieinhalb Stunden, bei Brise oder Flaute, die Fahne der Republik; die dreizehn Streifen jedoch senkrecht gedreht statt horizontal, was darauf hindeutet, daß dies ein ziviler und kein militärischer Posten von Onkel Sams Regierung ist. Die Hausfront schmückt ein Portikus aus einem halben Dutzend Holzsäulen, die einen Söller stützen, unter dem eine Treppenflucht aus breiten Granitstufen auf die Straße hinabführt.Über dem Eingang schwebt ein gewaltiges Exemplar des amerikanischen Mutteradlers mit ausgebreiteten Flügeln, einem Schild vor der Brust und, wenn ich mich richtig erinnere, einem Bündel vermengter Blitze und Pfeile voller Widerhaken in jeder Klaue. In derüblichen Gemütsschwäche, die dieses unselige Federvieh charakterisiert, scheint es durch die Schärfe von Schnabel und Auge und sein allgemein wildes Gebaren der harmlosen Gemeinschaft mit Unheil zu drohen und vor allem sämtliche Bürger, die sich um ihre Sicherheit sorgen, vor dem Eindringen in jene Räumlichkeiten zu warnen, die es mit seinen Flügeln&u