: Lars Saabye Christensen
: Yesterday Roman
: btb
: 9783641140199
: 1
: CHF 4.40
:
: Erzählende Literatur
: German
: 576
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Oslo, Frühling 1965: Die Beatlemania grassiert wie überall in Europa. Gerade ist 'I feel fine' erschienen. Die Pilzköpfe aus Liverpool beherrschen das Bild, beeinflussen die Jugend und verstören die Alten. Für Gunnar, Seb, Ola und Kim ändert sich alles. Hausaufgaben und Fußballtraining treten in den Hintergrund. Sie wachsen heran im Zeichen der Beatles. Sie nennen sich Paul und John, Ringo und George. Die neuen Scheiben bestimmen ihr Leben. Die vier überstehen den Erziehungsamoklauf ihrer besorgten Eltern und treiben Herrenfriseure in den Ruin. Sie erfahren den bittersüßen Geschmack der ersten Liebe und nehmen teil am weltweiten Aufbruch der Jugend. Und als die Zeit überschattet wird vom blutigen Ausgang der Pariser Maiunruhen und dem Massaker von My Lai, geht auch das nicht spurlos an ihnen vorüber ...

Lars Saabye Christensen, 1953 in Oslo geboren, ist einer der bedeutendsten norwegischen Autoren der Gegenwart. Seine Bücher sind in 36 Sprachen übersetzt und wurden vielfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Nordischen Literaturpreis, mehrmals mit dem Norwegischen Kritikerpreis, dem Preis des Norwegischen Buchhandels sowie dem Preis des Norwegischen Verlegerverbandes.

She’s a woman


Sommer 65


Das war der kälteste Sommer seit dem Krieg. Ich lag in meinem Zimmer im ersten Stock und hörte Platten, las alte Zeitschriften oder machte gar nichts, hörte nur den Elstern zu, die draußen im Baum hysterisch herumschrien und jäh davonflatterten, wie schwarze Scheren im Regen.

An diese Dinge erinnere ich mich: die Tennisschuhe, die im nassen Gras grün und eng wurden, eine Schnecke, die glänzenden Schleim hinter sich her die Treppe hoch zog, die ovale Form der Stachelbeeren, ihre eklige, behaarte Oberfläche (die mich an etwas erinnerte, was ich nie getan hatte), weiße Johannisbeeren und Magenkneifen, das Klo auf dem Hof und eine verblichene Fotografie des Urgroßvaters, der das Haus 1920 gekauft hatte. Und die Stille. Die Stille im Regen, unter der Bettdecke und der Haut, eine große, bedeutungsträchtige Stille. Bis auch er Urlaub bekam, fuhr Vater jeden Morgen mit dem Schiff in die Stadt und kam genau um fünf Uhr zurück. Und Mutter trippelte in lautlosen Latschen herum, einen riesigen Schal umgeschlungen, sie fror die ganze Zeit und langweilte sich, genau wie ich.

An so einem Tag, mit einer Regenwand vor den Fenstern, kam sie auf was ganz Verrücktes.

»Ich langweile mich so«, sagte sie plötzlich und nahm ihren Kopf in beide Hände. »Es ist so dunkel hier. Können wir nicht irgendwas machen?«

»Kommt Vater nicht bald?« fragte ich nur.

Sie erhob sich und ging unruhig hin und her.

»Er bleibt bis morgen in der Stadt«, seufzte sie und starrte in den Regen hinaus. »Eine Sitzung.«

»Wir können ja Karten spielen«, schlug ich zaghaft vor.

»Nein, bloß nicht! Ich hasse Kartenspielen, das weißt du doch.«

Ich überlegte, ob ich runter zur Brücke verschwinden sollte, um dort ein paar Würfe mit dem neuen Blinker auszuprobieren.

Doch Mutter kam mir zuvor.

»Ich hab’s!« sagte sie laut. »Wir verkleiden uns! Wir spielen Karneval! «

»Karneva!?« murmelte ich. »Mit was für Kleidern denn?«

»Da liegt ’ne Menge alter Kleider im Schrank auf dem Boden!«

Sie trippelte aus dem Zimmer und blieb eine ganze Weile fort.

Ich wäre am liebsten abgehauen, könnte vielleicht Walderdbeeren pflücken fahren, die waren sicher nach all dem Regen reif. Aber ich blieb sitzen, und Mutter kam mit einem Haufen Kleidern überm Arm zurück.

»Hier!« strahlte sie und warf alles auf den riesigen Tisch im Zimmer.

Ein komischer Geruch war in dem Zeug, Mottenkugeln, Staub, tote Menschen, bildete ich mir ein, es war etwas unheimlich. Mutter wühlte in dem Haufen, legte das, was ihr gefiel, zur Seite, und die ganze Zeit lachte sie, so hatte sie den ganzen Sommer noch nicht gelacht. Ich fand eine alte zweireihige Jacke und hängte sie über einen Stuhl.

Mutter zog sich aus. Ich sah sie erschrocken an und drehte mich weg.

Mutter lachte hinter mir.

»Genierst du dich, Kim?«

Seide raschelte. Ich drehte mich schnell um und sah sie wieder an. Unsere Blicke trafen sich in dem halbdunklen Raum, viel Angst und Weichheit waren in ihren Augen, auf den Armen bekam sie eine Gänsehaut. Sie stand ausgezogen da, lange war es still, ihr war wohl klar, daß sie mich jetzt ein wenig verloren hatte.

Hinterhe