: Theodor Storm
: Sabine Wolf
: Der Schimmelreiter. Textausgabe mit Kommentar und Materialien [Reclam XL - Text und Kontext] - Storm, Theodor - 16132
: Reclam Verlag
: 9783159604589
: Reclam XL ? Text und Kontext
: 4
: CHF 4.80
:
: Deutsch
: German
: 174
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Storms berühmte Novelle über den Deichgrafen Hauke Haien, der sich mit seinem Schimmel in die Fluten stürzt, thematisiert den Konflikt zwischen Rationalität und Irrationalität, Aufklärung und Aberglaube. Klassenlektüre und Textarbeit einfach gemacht: Die Reihe »Reclam XL - Text und Kontext« erfüllt alle Anforderungen an Schullektüre und Bedürfnisse des Deutschunterrichts: * Reclam XL bietet den sorgfältig edierten Werktext - seiten- und zeilengleich mit der entsprechenden Ausgabe aus Reclams Universal-Bibliothek. * Das Format ist größer (12,2 x 20 cm) als die gelben Klassiker der Universal-Bibliothek, mit ausreichend Platz für Notizen am Seitenrand. * Schwierige Wörter werden am Fuß jeder Seite erklärt, ausführlichere Wort- und Sacherläuterungen stehen im Anhang. * Ein Materialienteil mit Text- und Bilddokumenten erleichtert die Einordnung und Deutung des Werkes im Unterricht. * Natürlich passen auch weiterhin alle Lektüreschlüssel, Erläuterungsbände und Interpretationen dazu! E-Book mit Seitenzählung der gedruckten Ausgabe: Buch und E-Book können parallel benutzt werden.

Theodor Storm (14. 9. 1817 Husum - 4. 7. 1888 Hademarschen, Holstein) ist durch stimmungsstarke Lyrik und Novellen hervorgetreten. Sein Werk ist dem Realismus zuzuordnen, prägend sind Natur- und Gefühlsschilderungen, eine zunehmende Rolle spielen im Lauf des Schaffens gesellschaftliche und psychologische Konfliktsituationen, auch in historischen Zusammenhängen.

[3]Was ich zu berichten beabsichtige,ist mir vor reichlich einem halben Jahrhundert im Hause meiner Urgroßmutter, der altenFrau Senator Feddersen, kund geworden, während ich, an ihrem Lehnstuhl sitzend, mich mit dem Lesen eines in blaue Pappe eingebundenen Zeitschriftenheftes beschäftigte; ich vermag mich nicht mehr zu entsinnen, obvon den»Leipziger« oder von»Pappes Hamburger Lesefrüchten«. Noch fühl ich es gleich einem Schauer, wie dabei dielinde Hand derüber Achtzigjährigen mitunter liebkosendüber das Haupthaar ihres Urenkels hinglitt. Sie selbst und jene Zeit sind längst begraben; vergebens auch habe ich seitdem jenen Blättern nachgeforscht, und ich kann daher umso weniger weder die Wahrheit der Tatsachenverbürgen, als, wenn jemand sie bestreiten wollte, dafür aufstehen; nur so viel kann ich versichern, dass ich sie seit jener Zeit, obgleich sie durch keinenäußeren Anlass in mir aufs Neue belebt wurden, niemals aus dem Gedächtnis verloren habe.

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  Es war im dritten Jahrzehnt unseres Jahrhunderts, an einem Oktobernachmittag – so begann der damalige Erzähler –, als ich bei starkem Unwetter auf einem nordfriesischenDeich entlangritt. Zur Linken hatte ich jetzt schon seitüber einer Stunde dieöde, bereits von allem Vieh geleerteMarsch, zur Rechten, und zwar in unbehaglichster Nähe, dasWattenmeer der Nordsee; zwar sollte man vom Deiche aus aufHalligen und Inseln sehen können; aber ich sah nichts als die gelbgrauen Wellen, die unaufhörlich wie mit Wutgebrüll an den Deich hinaufschlugen[4]und mitunter mich und das Pferd mit schmutzigem Schaum bespritzten; dahinter wüste Dämmerung, die Himmel und Erde nicht unterscheiden ließ; denn auch der halbe Mond, der jetzt in der Höhe stand, war meist von treibendem Wolkendunkelüberzogen. Es war eiskalt; meineverklommenen Hände konnten kaum den Zügel halten, und ichverdachte es nicht den Krähen und Möwen, die sich fortwährend krächzend und gackernd vom Sturm ins Land hineintreiben ließen. Die Nachtdämmerung hatte begonnen, und schon konnte ich nicht mehr mit Sicherheit die Hufen meines Pferdes erkennen; keine Menschenseele war mir begegnet, ich hörte nichts als das Geschrei der Vögel, wenn sie mich oder meine treue Stute fast mit den langen Flügeln streiften, und das Toben von Wind und Wasser. Ich leugne nicht, ich wünschte mich mitunter in sicheres Quartier.

Das Wetter dauerte jetzt in den dritten Tag, und ich hatte mich schonüber Gebühr von einem mir besonders lieben Verwandten auf seinem Hofe halten lassen, den er in einer der nördlicherenHarden besaß. Heute aber ging es nicht länger; ich hatte Geschäfte in der Stadt, die auch jetzt wohl noch ein paar Stunden weit nach Süden vor mir lag, und trotz allerÜberredungskünste des Vetters und seiner lieben Frau, trotz der schönen selbstgezogenenPerinette- und Grand-Richard-Äpfel, die noch zu probieren waren, am Nachmittag war ich davongeritten.»Wart nur, bis du ans Meer kommst«, hatte er noch aus seiner Haustür mir nachgerufen;»du kehrst noch wieder um; dein Zimmer wird dir vorbehalten!«

Und wirklich, einen Augenblick, als eine schwarze Wolkenschicht es pechfinster um mich machte, und gleichzeitig die heulendenBöen mich samt meiner Stute vom Deich herabzudrängen suchten, fuhr es[5]mir wohl durch den Kopf:»Sei kein Narr! Kehr um und setz dich zu deinen Freunden ins warme Nest.« Dann aber fiel’s mir ein, der Weg zurück war wohl noch länger als dernach meinem Reiseziel; und so trabte ich weiter, den Kragen meines Mantels um die Ohren ziehend.

Jetzt aber kam auf dem Deiche etwas gegen mich heran; ich hörte nichts; aber immer deutlicher, wenn der halbe Mond einkarges Licht herabließ, glaubte ich eine dunkle Gestalt zu erkennen, und bald, da sie näher kam, sah ich es, sie saß auf einem Pferde, einem hochbeinigen hageren Schimmel; ein dunkler Mantel flatterte um ihre Schultern, und im Vorbeifliegen sahen mich zwei brennende Augen aus einem bleichenAntlitz an.

Wer war das? Was wollte der? – Und jetztfiel mir bei, ich hatte keinen Hufschlag, kein Keuchen des Pferdes vernommen; und Ross und Reiter waren dochhart an mir vorbeigefahren!

In Gedanken darüber ritt ich weiter; aber ich hatte nicht lange Zeit zum Denken; schon fuhr es von rückwärts wieder an mir vorbei; mir war, als streifte mich der fliegende Mantel, und die Erscheinung war, wie das erste Mal, lautlos an mirvorübergestoben. Dann sah ich sie fern und ferner vor mir; dann war’s, als säh ich plötzlich ihren Schatten an derBinnenseite des Deiches hinuntergehen.

Etwas zögernd ritt ich hinterdrein. Als ich jene Stelle erreicht hatte, sah ich hart am Deich imKooge unten das Wasser einer großenWehle blinken – so nennen sie dort die Brüche, welche von den Sturmfluten in das Land gerissen werden, und die dann meist als kleine, aber tiefgründige Teiche stehen bleiben.

Das Wasser war, trotz des schützenden Deiches, auffallend unbewegt; der Reiter konnte es nicht[6]getrübt haben; ich sah nichts weiter von ihm. Aber ein Anderes sah ich, das ich mit Freuden jetzt begrüßte: vor mir, von unten aus dem Kooge, schimmerten eine Menge zerstreuter Lichtscheine zu mir herauf; sie schienen aus jenen langgestreckten friesischen Häusern zu kommen, die vereinzelt auf mehr oder minder hohenWerften lagen; dicht vor mir aber auf halber Höhe des Binnendeiches lag ein großes Haus derselben Art; an der Südseite, rechts von der Haustür, sah ich alle Fenster erleuchtet; dahintergewahrte ich Menschen und glaubte trotz des Sturmes sie zu hören. Mein Pferd war schon von selbst auf den Weg am Deich hinabgeschritten, der mich vor die Tür des Hauses führte. Ich sah wohl, dass es ein Wirtshaus war; denn vor den Fenstern gewahrte ich die so genannten»Ricks«, das heißt auf zwei Ständern ruhende Balken mit großen eisernen Ringen, zum Anbinden