: Ulrich Ladurner
: Lampedusa Große Geschichte einer kleinen Insel
: Residenz Verlag
: 9783701744657
: 1
: CHF 11.40
:
: Gesellschaft
: German
: 144
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
20 Quadratkilometer Kulturgeschichte Zarin Katharina II. wollte die Insel für ihre Flotte erwerben. William Shakespeare siedelte auf ihr sein Drama 'Der Sturm' an. Ariosto ließ seinen Rasenden Roland an ihrem Strand kämpfen. Hunderte Soldaten Mussolinis ergaben sich 1943 widerstandslos einem englisch-jüdischen Piloten, der auf der Insel notgelandet war. Der italienische Romancier Tomasi di Lampedusa verspottete die Insel, deren Namen er trug. Und seit mehr als zwei Jahrzehnten ist Lampedusa für zehntausende Flüchtlinge zu einer Insel der Hoffnung geworden. Ulrich Ladurner hat sich aufgemacht, diese schroffen Felsen mitten im Meer zu erforschen - er fand Zeugnisse aus dem Herzen europäischer Geschichte und Gegenwart.

Ulrich Ladurner, geboren 1962 in Meran/Südtirol, studierte Politikwissenschaft und Geschichte in Innsbruck. Seit 1999 berichtet er als Auslandsredakteur der Wochenzeitung DIE ZEIT aus Irak und Iran, Afghanistan und Pakistan. Er lebt in Hamburg. Bücher: 'Bauern am Berg' (1996), 'Islamabadblues' (2001), 'Tausendundein Krieg' (2004), 'Die Asadis' (2006), 'Südtirol liegt am Meer' (2006), 'Die iranische Bombe' (mit Gero von Randow, 2006), 'Bitte informieren Sie Allah!' (2007), 'Solferino' (2009), 'Eine Nacht in Kabul (2010).

2. PIRATEN


Am nächsten Morgen gehe ich zu früher Stunde die Via Roma entlang, die zentrale Straße des Ortes Lampedusa. Es sind kaum Menschen zu sehen. Die Geschäfte sind geschlossen, nur ein Café ist geöffnet. Auf Plastikstühlen sitzen drei Männer und plaudern. Ein vierter hält sein Gesicht mit geschlossenen Augen in die wärmende Sonne. Er hat den Kragen seines Mantels hochgeschlagen. Ich gehe schnellen Schrittes vorbei, denn ich habe das Gefühl, dass ich von den Männern aus den Augenwinkeln beobachtet werde. Es ist Winter, man muss sich die Zeit totschlagen. Ein Fremder ist da gewiss eine willkommene Abwechslung.

Die Via Roma mündet in einer Terrasse, von der aus man einen Rundblick auf den Hafen hat. Das Meer ist aufgewühlt. Der Wind ist eine Heimsuchung. Die Lampedusaner, sagte mir am Morgen der Rezeptionist meines Hotels, sind es gewohnt, im Freien zu sein, aber bei diesem Wetter sei das kaum möglich. Deswegen seien sie alle unruhig und würden geplagt von Schmerzen und Beschwerden, die ihnen den Schlaf rauben und den Tag verderben.

Ich verlasse die Via Roma, um eine Rundreise um die Insel zu unternehmen. An der Steilküste im Norden der Insel parke ich den Leihwagen, nicht weit von den Klippen entfernt. Die Wellen türmen sich, schäumen und stürzen donnernd gegen die Felsen. Irgendwo da draußen, nicht weit von der Insel entfernt, muss das Schiff Alonsos, des Königs von Neapel, gesunken sein, die Planken zertrümmert von den harten Schlägen des Wassers, die Segel zerfetzt von den peitschenden Winden.

»Das Schiff bricht auseinander

Lebt wohl, meine Frau, meine Kinder!

Leb wohl, Bruder!

Es bricht, es bricht, es bricht!«

So schreien die Matrosen im Inneren des Schiffes, ohne Hoffnung aufÜberleben verabschieden sie sich. Auf den Klippen der Insel steht Miranda neben ihrem Vater, dem Zauberer Prospero. Sie fleht ihn an:»Falls ihr, mein geliebter Vater, durch Eure Kunst die wilden Wasser in diesen Aufruhr versetzt habt, besänftigt sie wieder. Der Himmel, scheint es, würde stinkendes Pech niedergießen, stiege nicht die See empor zu seiner Wange und löschte so das Feuer. Oh habe ich gelitten mit denen, die ich leiden sah: ein stattliches Schiff (das ohne Zweifel edle Geschöpfe in sich barg), und in tausend Stücke zerschmettert. Oh, der Schrei drang mir bis ans Herz. Die armen Seelen, sie gingen unter!«

Dies ist eine Szene aus William Shakespeares Drama»Der Sturm«. Die Insel, auf die der Zauberer Prospero verbannt worden ist, auf der er mit seiner Tochter Miranda lebt und auf die die Schiffbrüchigen sich schließlich retten können, ist vermutlich Lampedusa. Es besteht darüber keine Gewissheit, doch einiges spricht dafür, dass Shakespeare sich diese Insel vorstellte, als er»Der Sturm«, im Original»The Tempest«, schrieb. Das verlassene, unwirtliche Lampedusa könnte Shakespeare durch Beschreibungen englischer Reisender bekannt gewesen sein. Mit Sicherheit kannte er»Orlando Furioso«, das Epos des italienischen Dichters Ludovico Ariosto, denn es hat sein Werk nachweislich beeinflusst. Ariosto veröffentlichte sein Versepos im Jahr 1516 in einer ersten Fassung, es folgten zwei weitere. Den historischen Hintergrund des Werkes bildet eine ganze Kette von Kriegen zwischen Karl dem Großen und den Sarazenen im achten Jahrhundert, die an den Küsten und Inseln des Mittelmeers ausgefochten wurden. Lampedusa ist im»Orlando Furioso&