: Vilma Neuwirth
: Glockengasse 29 Eine jüdische Arbeiterfamilie in Wien
: Milena Verlag
: 9783902950079
: 1
: CHF 13.50
:
: Romanhafte Biographien
: German
: 140
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Vilma Neuwirths Erinnerungen dokumentieren auf einzigartige Weise den Überlebenskampf einer jüdischen Wiener Arbeiterfamilie. Ein seltenes und kraftvolles Zeugnis der österreichischen Vergangenheit. Im Haus Glockengasse Nr. 29 lebten bis 1938 jüdische und christliche Kleingewerbetreibende und Arbeiter friedlich miteinander. Man half sich im Alltag und pflegte, so weit es die begrenzten Mittel zuließen, gute Nachbarschaft. Im März 1938 wurden aus Nachbarn schlagartig Verfolger und Verfolgte: Erniedrigungen wie die berüchtigten Reibpartien, Flucht und Deportation standen auch in der Glockengasse an der Tagesordnung. Mittel für eine organisierte Flucht gab es nicht. Auch die ärmlichsten Wohnungen wurden arisiert. Das Überleben der jüdischen Bewohnerinnen und Bewohner kam einer Unmöglichkeit gleich. Vilma Neuwirth überlebte die Schrecken und den Terror der NS-Herrschaft als Sternträgerin in der Wiener Glockengasse, nicht zuletzt durch den Mut ihrer Mutter. Sie erzählt in ihren Erinnerungen an die Jahre 1938 bis 1945 eindringlich von den täglichen Veränderungen unter den neuen Machthabern, von der antisemitischen Hetze der Nachbarn, von jugendlichem Leichtsinn und dramatischen Trennungen. In ihrem Buch erzählt Vilma Neuwirth nicht nur von ihrem persönlichen Schicksal, sondern auch von dem ihrer Familienangehörigen, jenen, die in den Vernichtungslagern der Nationalsozialisten umgebracht wurden, aber auch jenen, die in Wien auf abenteuerliche Weise überleben konnten.

Vilma Neuwirth, geb. 1928 in Wien-Leopoldstadt, überlebte als Sternträgerin die Nazizeit in Wien. Nach dem Zweiten Weltkrieg Lehre als Friseuse, Mitarbeit im Geschäft des 1. Ehemannes, Scheidung. U.a. Referentin bei den Vereinigten Edelstahlwerken. Studium der Fotografie bei Franz Hubmann. Vortragsarbeit im Rahmen ihres Zeitzeuginnen-Engagements. Seit Anfang 1993 Mitarbeit im Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes. Frau Neuwirth lebt in Wien.

Glockengasse 29


Unser Haus in der Glockengasse war etwas ganz Besonderes, abgesehen davon, dass es in einem ziemlichen desolaten Zustand war. Die Kacheln auf dem Gangboden waren teilweise zerbrochen, meistens gar nicht mehr vorhanden. Diejenigen, die noch vorhanden waren, wackelten so stark, dass es ein Glück war, nicht darüberzustolpern und sich den Fuß zu brechen. Aber trotz aller Mängel– ich liebte das Haus. Ich denke noch oft mit Wehmut daran zurück.

Im zweiten Stock, wo sich insgesamt fünf Wohnungen befanden, wohnten außer uns noch zwei jüdische Familien und zwei katholische.

Da war zum Beispiel die Familie Novotny: Sie war für uns die Tante Lintschi, er der Onkel Schorschi. Sie war Jüdin, er katholisch. Als die beiden Schwestern von Tante Lintschi sehr jung an Tuberkulose starben, versprach sie ihnen am Totenbett, sich um ihre Mädchen zu kümmern. Eine ihrer Schwestern hatte zwei Töchter, Rosi und Trude, die andere Schwester eine Tochter, Erika. Außer den Mädchen Rosi, Trude und Erika hatten die Novotnys immer ein paar Hunde zu versorgen, die Schorschi von der Straße auflas, wenn diese herrenlos herumstreunten. Schorschi war fast immer arbeitslos. In dieser Familie war die Not also besonders groß.

Im Haus gab es eine kleine Greißlerei, eine ganz wichtige Institution für uns Mieter. Die Einkäufe bei der Greißlerin wurden einmal im Monat bezahlt. Jede Partei hatte ein sogenanntes»Schuldenbücherl«, in dem jeder Einkauf notiert wurde. Herr und Frau Bergkirchner, die Inhaber, hatten viel zu schreiben. Die Parteien kamen fast jeden Tag, um»einzukaufen«. Da wurden zum Beispiel 3 dag Kaffee, 10 dag Zucker oder 30 dag Mehl gekauft. Wenn 15 dag Schmalz gekauft wurden, schabte man das Einwickelpapier penibelst ab, sodass der Küchentisch fast zerkratzt wurde. War gerade keine Kundschaft im Geschäft, fertigte das Ehepaar Bergkirchner Stanitzeln an. Für die kleinen Mengen, die täglich gekauft wurden, gab es keine Sackerln. Kochte die Greißlerin geselchtes Fleisch, gab sie die Suppe immer gratis an die Hausparteien ab. Da wurden dann Graupen eingekocht und eine Mahlzeit war fertig.

War, was oft vorkam, bei Tante Lintschiüberhaupt kein Geld im Haus, ging sie ins Pfandl3. Sie versetzte alles, was nicht niet- und nagelfest war: Bettzeug, Geschirr, fallweise sogar ihre Unterwäsche. Hatten die Versatzscheine eine größere Anzahl erreicht, stolzierte sie mit den Scheinen, die sie wie einen offenen Fächer hielt, auf dem Gang herum und fächelte sich damit Luft ins Gesicht. Das war dann der Auftakt für die anderen, es ihr nachzumachen. Alle kamen mit ihren Versatzscheinen auf den Gang und den Schmäh lief. Aber Tante Lintschi war mit der Anzahl ihrer Versatzscheine die ungekrönte Königin.

Man hatte einige Monate Zeit, die versetzten Gegenstände gegen einen kleinen Betrag wieder auszulösen. Die meisten Leute ließen die Sachen aber verfallen, weil sie kein Geld zum Auslösen hatten. Bei uns gab es nie einen einzigen Versatzschein, denn wir waren im Haus sozusagen»etwas Besseres«. Vater betrieb im Haus ein kleines Friseurgeschäft, hatte aber nur wenige Kunden. Manchmal musste er stundenlang auf Kundschaft warten. Bei uns hieß es immer:»Nach der Decke strecken, versetzt wird nichts!« Da waren meine Eltern sehr konsequent. An Sonntagen roch es vor der Wohnung von Tante Lintschi manchmal nach Schnitzel. Vater sagte dann immer lachend:»Wahrscheinlich hat sie dieses Mal ihre Schuhe versetzt, ich hab sie mit den Hausschuhen auf der Gasse gesehen.«

Er wollte uns damit vermutlich trösten, denn bei uns gab an Sonntagen oft nur Linsen mit Knödel. Ging das Geschäft am Wochenende etwas besser, trat Mutter in Aktion: Vater bekam drei Zigaretten der Marke»Sport« und Mutter ging einkaufen. Dabei hatte sie einen besonders guten Trick. Sie ging immer am Samstag, knapp bevor die Bauern am Karmelitermarkt ihre Standeln wegräumten. Um diese Zeit bekam sie die Ware um einen Bruchteil des Preises, der normalerweise dafür verlangt wurde. Die Bauern waren froh, ihr Obst und Gemüse noch loszuwerden, denn am nächsten Tag hätten sie es ohnehin wegwerfen müssen. So kam Mutter mit vollen Taschen