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Es ist für das Verständnis des Ablaufes der Geschehnisse durchaus hilfreich, die Uhr noch einmal gut zwei Stunden zurückzudrehen und den guten Pfarrer Sistemich beim Joggen zu beobachten. Auf den ersten Blick mag es verwunderlich erscheinen, einen katholischen Geistlichen mit dem Laufsport in Verbindung zu bringen. Bei näherer Betrachtung ist jedoch ein joggender Gemeindeseelsorger ebenso wenig etwas Besonderes wie ein Rad fahrender Architekt oder ein Golf spielender Zahnarzt.
Dr. Ottmar Sistemich bewegte sich jedenfalls flüssig, leichtfüßig und gar nicht mal langsam durch die blühende Landschaft, die sich um seine Gemeinde herum erstreckte. Und natürlich tat er das nicht in Arbeitskleidung, sondern in einem ganz gewöhnlichen Sportdress. Außerdem war Pfarrer Sistemich kein in Ehren ergrauter Veteran des Katholizismus, sondern ein dynamischer, sportlicher Mann Ende dreißig, der seine blonden Haare in einem modischen kurzen Schnitt trug, welcher seine Sportlichkeit noch unterstrich. Seine Erscheinung als Jogger war also insgesamt alles andere als ungewöhnlich. Zwar sagte man ihm Dinge nach, die dann doch wiederäußerst bemerkenswert waren, doch erstens handelte es sich dabei ausschließlich um Gerüchte, und zweitens soll davon später noch die Rede sein.
Pfarrer Sistemich genoss die warme Luft, das Vögelgezwitscher in den Feldern und war wie fast immer beim Laufen mit Gott und der Welt im Reinen. Das war er nicht gewesen, als er diese Gemeinde als die erste seiner Laufbahnübernommen hatte. Strafversetzt hatte er sich gefühlt, in ein Achthundert-Seelen-Dorf in der Eifel ziehen zu müssen. Doch bald schon hatte er die Nähe zur Natur, die Ruhe in Wald und Feld schätzen gelernt. Und seine kleine Gemeinde war längst nicht so langweilig, wie er anfänglich befürchtet hatte. Und dies lag an denüberraschend vielfältigen Charakteren, auf die man in einem kleinen Eifeldorf treffen konnte.
Einer davon, den man nun wirklich nicht zu den unauffälligsten Schafen in der Herde des Dr. Sistemich zählen konnte, kündigte sich dem dahintrabenden Pfarrer durch das Knattern und Grollen seines Gefährtes an, mit dem er sich fortzubewegen pflegte und das er auch an diesem Sonntagnachmittag benutzte, um eine Kontrollfahrt durch seine Felder zu machen. Ottmar Sistemich erkannte den Traktor des alten Bauern Reinartz ohne Mühe. Ruckelnd und dröhnend kam er ihm auf dem unebenen Feldweg entgegen. Das uralte, nach verbrauchtem Fett undÖl stinkende Ungetüm (der Traktor ist gemeint) wankte und hüpfte, ratterte und schwang mit bedenklichen Ausschlägen der ausgeleierten Stoßdämpfer voran. Der kleine, ausgedörrte Mann auf dem Fahrersitz wurde so heftig durchgeschüttelt, dass ihm sicherlich sein Gebiss in hohem Bogen aus dem Munde geflogen wäre, wenn er es denn vor Fahrtantritt angelegt hätte.
Als der Pfarrer nur noch wenige Schritte von der zerbeulten und verrosteten Motorhaube des Traktors entfernt war, lenkte Franz Reinartz sein Gefährt in eine tiefe Spurrille, woraufhin das lärmende Monster einen Satz machte, der es dem Pfarrer gefährlich nahe brachte.
»Herrgott! Puckel, pass doch auf!«, rief Sistemich in seinem Erschrecken aus. Bauer Reinartz brachte den Traktor mit brutal kreischenden Bremsen zum Stehen. Dann kletterte er umständlich aus dem Sitz und auf den Weg.
»Jessesmariajosef, Herr Pfarrer, hätte sich jet jedohn?«, fragte der Alte und kauerte sich vor Dr. Sistemich hin. Das heißt, er stand so gerade, wie er konnte. Aber da er auch in jüngeren Jahren schon kein Riese gewesen war und dazu noch mit fortschreitendem Alter eineüberaus auffällige Verkrümmung seines Rückens erlitten hatte, sah es so aus, als hocke er sich vor den hochgewachsenen Pfarrer hin. Dass Sistemich ihn wenig freundlich in seinem Schrecken als»Puckel« angerufen hatte, war ihm nicht sonderlich aufgefallen, denn jeder im Dorf nannte Franz Reinartz so, auch wenn er nicht gerade von dem alten Bauern mit dem Traktor attackiert wurde.
Aber davon abgesehen hatte der Alte diese Anrede wohl ohnehin kaum gehört, denn er verfügte nicht nur wie jeder Eifelbauer von Geburt anüber ein ausgesprochen selektives Gehör, sondern war darüber hinaus eigentlich seit Jahren fast taub. Darum störte ihn auch der trommelfellzerfetzende Lärm, den sein Traktor selbst im Leerlauf noch produzierte, nicht im Geringsten.
»Nein, Herr Reinartz. Ich habe mir nichts getan«, schrie Sistemich, der sich längst wieder in der Gewalt hatte, gegen den mächtigen Diesel an. Der alte Bauer grinste zahnlos und kratzte sich durch seine weißen Bartstoppeln. Dabei löste er