: Theodor Storm
: Gerd Eversberg
: Sagen, Märchen und Schwänke aus Schleswig-Holstein
: Boyens Buchverlag
: 9783804230392
: 1
: CHF 7.90
:
: Märchen, Sagen, Legenden
: German
: 176
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Die Sagen und Märchen aus Schleswig-Holstein erfreuen sich besonderer Beliebtheit beim lesenden Publikum. Wenig bekannt ist, dass Theodor Storm als junger Mann einen bedeutenden Beitrag zur Sammlung solcher populären Texte aus den Herzogtümern geliefert hat. Die hier vorgelegte Zusammenstellung von Sagen, Märchen und Schwänken wurde von Storm während und kurz nach seiner Studienzeit in Kiel und Husum in engem Kontakt mit seinem Kommilitonen Theodor Mommsen und einem akademischen Freundeskreis gesammelt. Es handelt sich um mündlich und schriftlich überliefertes Erzählgut vor allem aus Nordfriesland und Dithmarschen, das von den Sammlern und Herausgebern bearbeitet und in eine einheitliche literarische Form gebracht wurde. Für den jungen Storm war diese Tätigkeit ein Experimentierfeld seiner frühen Schreibversuche; er nutzte später eine Fülle von Sagenmotiven für seine Novellistik. Diese Ausgabe ergänzt das lyrische und novellistische Werk des Husumer Dichters um eine wenig bekannte Facette.

Prof. Dr. Gerd Eversberg leitete bis 2011 als Sekretär der Theodor-Storm-Gesellschaft das Storm-Zentrum in Husum. Er lehrt neuere deutsche Literaturwissenschaften an der Georg-August-Universität Göttingen. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten zählt des Frühwerk Storms.

Das Wunderkind,


oder Heineken’s des berühmten lübeckischen Säuglings An- und Abschiedsreden an Se. Maj. zu Dänemark nebst dessen Vorschmack der dänischen Geschichte.

Abb. 7

„Hier siehestu, günstiger Leser, die wahre Abbildung eines sehr jungen aber von GOtt mit seltenen Gaben und ungemeinen frühzeitigen Verstand begabten Kindes:

von welchem man mit Grund der Wahrheit schreibet, daß dessen Wunderns-würdiges Gedächtniß, starckes Judicium, ungemeines Ingenium und Fleiß es von vielen tausend andern Kinder unterscheidet, und manchen Alten beschämet. Es ist dieses Knäblein in der berühmt- und bekandten Freyen Reichs-Stadt Lübeck A. 1721 den 6. Febr. gebohren, und heisset mit NahmenChristian Heinrich Heineken. Als es kaum angefangen zu reden, saß es ohngefehr bey dem Ofen, und fragte: Was doch die Figuren an demselben bedeuten? Wie man ihme nun solche nach seinem Captu erkläret, und ein und anders dabey erzehlet, so hat man mit Verwunderung angehört, daß es alles den folgenden Tag seinen Schwestern, und zwar fast mit denselbigen Worten wieder erzehlet. Worauf man angefangen, ihm Biblische Historien vorzusagen, als es nun auch selbige gleich behalten, und immer grössere Begierde, etwas neues zu hören, bey ihme zu verspüren gewesen, ist ihm aus andern Wissenschafften in sehr kurtzer Zeit so vieles beygebracht worden, daß es in der Historie nicht nur alle Kayser, Könige und Potentaten in allen 4 Monarchien in einer Svite kan hersagen, sondern auch, was dieser oder jener Gut- oder Böses verrichtet, ingleichem, was unter einem jeden Merckwürdiges passirt ist, erzehlet: und dieses nicht nur aus der Profan-sondern auch aus der Reformations-Kirchen und Biblischen Historie, aus welcher letztern es alle Patriarchen, Richter und Könige in Juda und Israel hersaget.

In der Genealogie weiß es von den Geschlechtern, Stamm-Häusern und Vermählungen hoher Familien und Potentaten solche Proben abzulegen, die man nicht von einem solchen Kinde kan prætendiren. In der Geographie weiß es bey einer jeglichen Land-Charte die vornehmsten Flüsse, Städte, Fürstenthümer, Provinzien und Herrschafften zu nennen, wie auch vornehme Schlachten, welche verschiedene Oerter berühmt gemacht haben. Ingleichen zeiget es aus der Astronomie nicht nur alle 4 Plagas Mundi, sondern erzehlet auch die vornehmste Landschafften, so gegen Osten, Süden, Westen und Norden gelegen. Auf Latein kan es fast alles nennen, was ihm vorkommt, und viele lateinische Sententien und Sprichwörter hersagen. Den Catechismum, viele Kern-Sprüch aus der Bibel nebst schönen geistlichen Liedern weiß es ebenfalls perfect auswendig: wie es denn auch diese letztere nach ihrer rechten Melodie singen kan, und dadurch die, welche es hören, nicht wenig afficiret. Summa, es begreifet dieses Kind durch blosses Vorsagen mehr, als viel tausend andern Kindern mit grosser Mühe beizubringen. Es lässet wenig Kindisches von sich sehen, ergötzet sich sehr an Mahlereyen, und lässet eine grosse Begierde immer mehrers zu lernen von sich verspühren, ja es suchet durch sein vieles Wissen andere Unwissende und faule Ignoranten jederzeit zu beschämen. Anderer Sachen, die sich nicht alle specificiren lassen, zu geschweigen. Und dieses ist dann die eigentliche Beschaffenheit und beglaubte Nachricht dieses Kindes. GOtt gebe, daß es viele zu gleichem Fleiß und Geschicklichkeit aufmuntern und anreitzen möge.

Ein Kind, wie dieses ist, bringt kaum in hundert Jahren,

Die mildeste Natur aus ihrem Schatz herfür.

O! hochgeschickter Kopf! wo sich zusammen paaren

So reiche Wörter-Pracht und Wissenschafften Zier!

Ein Knabe dreyer Jahr, von schwach und kranckem Leibe,

Tritt mit des Lehrers Fleiß den sichern Wettstreit an;

Wer zweiffelt, glaube diß, was ich gesehen schreibe,

Wo nicht, so schau er selbst diß Wunder, weil er kan.“

Mit dieser Einleitung beginnt ein 1724 in Lübeck erschienenes merkwürdiges Buch, welches aus zwei Theilen besteht. Der eine enthält die An- und Abschieds-Reden unsers Säuglings in verschiedenen Audienzen, die selbiger bei König Friedrich IV. zu Friedensburg und zu Hirschholm und Kjöge bei denübrigen fürstlichen Personen hatte. Diese Audienzen des Wunderkindes dauerten beständig mehrere Stunden, undüberall hat es die ungewöhnlichste Aufmerksamkeit erregt. Von der Audienz beim Prinzen Karl und seiner Gemahlin in Kjöge, wo das Wunderkind auch zur Tafel geladen wurde, heißt es:„Mit was hohen Gnaden-Zeichen Ihro Ihro Hoheit Hoheiten dieses Kind jetzt und darauf bei Dero Hohen Tafel in Gegenwart Dero Herrn Ober-Kämmerers und Geheimten-Raths Sr. Excellentz des Herrn von Plessen (als welches Generosité insbesondere unter allen Cavaliers sich am meisten gegen das Kind herfür gethan) undübrigen Herren Hoff-Cavaliers, Dames und anwesenden Hoff-Staats 2 Stunden lang Audientz verstatteten, kan nicht genug gepriesen werden.“ An den König selbst aber richtete der kleine Heineken bei diesen Gelegenheiten folgende Anrede:

„Allerdurchlauchtigster, Großmächtigster König! Allergnädigster König und Herr! Glückseelig ist dieser Tag, an welchem mir schwachen Säugling die allerhöchste Gnade angedeyet, Eure Königl. Majestät als einen der allergrößesten Monarchen in allerunterthänigster Devotion zu adoriren. Noch glückseeliger ist dieses Tages Licht vor mich, weil ich um dessen Willen mein Leben den stürmenden Meereswogen anvertrauet, welche nur einen Finger breit zwischen mir und dem Todeübrig liessen. Am allerglückseeligsten ist diese Stunde, welche dies von mir in Einfalt gesprochne Wort erfüllet: Ich würde von meiner Schwachheit genesen, wann meine Unschuld sich zu den Füßen Eurer Königl. Majestät in den Staub neigte. Zum ewigen Beweiß und Denck-Mahl dieser meiner Veneration habe ich mich unterwunden, durch den Herrn Ober-Hof-Marschall vor Dero geheiligten Thron einige Historische Blätter in aller Unterthänigkeit niederzulegen, welche ich in meinem zweijährigen Alter von denen ewig grünenden