: Kerstin Hensel
: Das verspielte Papier Über starke, schwache und vollkommen misslungene Gedichte
: Luchterhand Literaturverlag
: 9783641133917
: 1
: CHF 4.50
:
: Erzählende Literatur
: German
: 240
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Was eigentlich ist ein gutes Gedicht?

Lyrik gilt oftmals als schwierig. Dabei ist Lyrik allgegenwärtig – in Gebrauchstexten, in Liedern, in der Werbung: »Haribo macht Kinder froh – und Erwachsene ebenso«. Kerstin Hensel, selbst eine angesehene Lyrikerin und Lyrikdozentin, untersucht Texte aller Art und erklärt klar und leicht verständlich, was ein gutes Gedicht ist und was gelungene Gedichte von schlechten und völlig missratenen unterscheidet. Sie demonstriert, dass auch schwierigste Gedichte verstanden und in ihrer Qualität beurteilt werden können. Mit ihrem klugen Handbuch schafft sie für alle, und nicht nur den Lyrikliebhabern, einen unverkrampften Zugang zu Gedichten.

Kerstin Hensel wurde 1961 in Karl-Marx-Stadt geboren. Nach ihrer Ausbildung zur Krankenschwester studierte sie am Institut für Literatur in Leipzig. Sie gilt als eine vielseitigsten und einflussreichsten Vertreterinnen der deutschen Gegenwartsliteratur. Ihr Werk umfasst Lyrik, Romane und Erzählungen. Seit 2024 wurde Kerstin Hensel zur Direktorin der Sektion Literatur der Akademie der Künste Berlin gewählt. Sie unterrichtet an der Hochschule für Schauspielkunst »Ernst Busch«. Bei Luchterhand sind zuletzt erschienen: der Lyrikband »Schleuderfigur« sowie der Roman »Regenbeins Farben«. Kerstin Hensel lebt in Berlin.

RATIO UND RÄTSEL

Kunst ist Form. Formen heißt Entformeln.

Kurt Schwitters

Was ist ein Gedicht? Jede Behauptung, was Kunst sei oder nicht, fordert Gegner heraus. Gewiß auch jene: es gäbe einen benennbaren Unterschied zwischen Prosa und Lyrik. Ein Gedicht besteht aus Versen, Prosa aus Zeilen– diese Aussage ist ein alter Hut, der auf gegenwärtigen Lyrikmodeschauen nur noch selten getragen wird. Der Hut scheint zu eng, aber ich vermute, viele sind nur nicht mutig genug, ihn– nach eigener Fasson– zu tragen.

Um den Unterschied Lyrik– Prosa zu verdeutlichen, spiele ich ein Thema in verschiedenen Sprachvarianten durch. Ich wähle»Selbstmord«.

In derUmgangssprache, die zur unmittelbaren Verständigung im Alltag dient, könnte das Selbstmord-Thema so klingen:

Haste von der schrecklichen Jeschichte jehört? die Peschke-Lisa hat sich jestern Abnd selbst um de Ecke jebracht. Liegt bei der inne Familie. Schon dern Jroßmutter hat sich offjehängt und dern Tochter, auch dern Söhne sin alle irjendwie hops jegangen. Ick vamute, det kommt, weil die ham früher mal am Moor jewohnt, und du weeß ja, wie sowat is…

Umgangssprache (mit oder ohne Jargon), die sich von der Standardsprache durch das Sprachniveau unterscheidet, ist die ungeformteste und ungenormteste aller Varianten. Sie gibt Auskunftüber die soziale Schicht des Redenden. Umgangssprache ist keine Kunst, kann aber, bewußt eingesetzt, ein wichtiges Stilmittel sein. Auch im Gedicht.

EineZeitungsmeldung will eine breite Leserschaft auf allgemeinverständliche Weiseüber das Thema informieren, bzw. darüber berichten:

Am Abend des 23. Juni 1996 entdeckte ein Passant eine leblose Person am Ufer der Spree. Nach Ermittlungen der Polizei handelt es sich um die 54-jährige Lisa Peschke. Sie hat Selbstmord begangen und einen Abschiedsbrief hinterlassen, in dem sie ihre Lebenssituation als nicht mehr tragbar schildert…

Texte imLexikon oder einer wissenschaftlichen Schrift werden inFachsprache verfaßt. Das Thema wird sachlich, ohne Emotionen, Phantasie oder sonstige sprachliche Ausschmückung erörtert:

Suizid (lat.: sui caedes›Tötung seiner selbst‹), auch Selbsttötung, Selbstmord oder Freitod, ist das willentliche Beenden des eigenen Lebens, sei es durch beabsichtigtes Handeln oder absichtliches Unterlassen von lebenserhaltenden Maßnahmen.

Bis hier hin ist alles Prosa, die unser Thema unterschiedlich, jedoch kunstfern behandelt. Kunst beginnt mit der künstlerischen Gestaltung der Sprache, d.h. sie verläßt die unmittelbare Informationsebene und somit die eindimensional wahrgenommene Realität:

An der dunkel, ins Nächtliche fließenden Spree, eine halbe Stunde entfernt vom Kino, aus dem ich an einem Novemberabend gekommen war, stieß mein Fuß plötzlich auf etwas weiches, tierhaftes, was da am Ufer lag. Ich erstarrte. Ich wagte nicht, mich zu bücken und nachzusehen, was mir im Weg lag. Schließlich tat ich es doch und sah: eine Frau, vielleicht fünfzig Jahre, in einem grauen, schäbig zerrissenen Mantel. Sie war tot. Sie lag da, so traurig und unheimlich war ihr erloschener Blick…

Das warerzählende Prosa: Epik. In der epischen Literatur werden die Dinge be-, das Thema somit umschrieben, Stimmungen geschaffen, Spannung erzeugt, also alles, was wir in Romanen, Erzählungen, Reportagen usw. finden. In der Epik leitet uns der Blick des Autors durchs Geschehen. Er will nicht mehr nur informieren, sondern andere Dimensionen des Erkennens schaffen.

Ebenfalls Prosa, aber mit lyrischen Einsprengseln, heißtdichterische Prosa. Sie kommt, wie die epische, in Zeilen daher, arbeitet aber mit komprimierten Bildern, ausgeprägtem Sprachrhythmus und oftmals eigenwilliger Syntax:

An der dunkel nächtlich verfließenden Spree, stößt der Fuß auf weiches Ufergetier. Erstarrung und Furcht! was seh ich, was schneidet den Weg mir ab, da liegt sie: die Tote, im grauen schäbigen Kleid. Sie liegt, als hätte sie selbst sich gerichtet, so traurig, unheimlich der erloschene Blick…

Zu allen Zeiten gab es die Mischung der Gattungen untereinander: Prosa mit Elementen der Lyrik, Lyrik mit Prosaelementen, lyrische Dramatik, epische Dramatik, dramatische Lyrik. Mischformen klingen interessant, gaukeln aber mitunter nur tiefere Bedeutung vor. Aus diesem Grund sehe ich die Erweiterung der Gattungen, ihre begriffliche Unbestimmbarkeit nicht immer als Bereicherung.

Wir erreichen nun die gebundene Sprache, das Genre Gedicht:

Lisa Peschke, welch ein Unglück,

nahm sich einen dicken Strick.

Hatte schon immer Pech im Leben:

Krieg, alle Söhne tot und vieles ging daneben.

Auch das Moor, wo sie wohnte, war für sie nicht gut,

Nun ist Lisa Peschke tot.

Was daran ist ein Gedicht? Der Text sieht aus wie ein solches und reimt sich. Formal kommt er als Gedicht durch– freilich als miserables: es fehlen die poetische Idee, sowie jegliches Sprach- bzw. Rhythmusgefühl. Das Metrum