Kapitel 3
Nathaniel West war 34 Jahre alt. Mit zehn Jahren hatte er bei einem Autounfall beide Eltern verloren. Er war bei seiner Tante Linda Clark aufgewachsen.
Er hatte mit 29 Jahren die Firma seines Vatersübernommen, ein einträgliches Geschäft, das er noch profitabler gemacht hatte.
Mir war sein Name seit Urzeiten ein Begriff gewesen – und zwar aus den Klatschspalten, die den Leuten aus den unteren Schichten Vorstellungenüber»die da oben« vermitteln. Nathaniel wurde als Kotzbrocken, als richtiger Mistkerl dargestellt. Aber ich bildete mir ein,über den Menschen Nathaniel West ein wenig besser Bescheid zu wissen.
Vor sechs Jahren ? ich war 26 gewesen – war meine Mutter wegen ihrer Scheidung von Dad in eine schwierige Finanzlage geraten. Sie hatte so hohe Schulden, dass ihr die Bank mit einer Zwangsvollstreckung ihres Hauses drohte. Aber Nathaniel West hat sie gerettet.
Nathaniel saß im Vorstand der Bank und setzte durch, ihr die Möglichkeit zu geben, die Schulden abzutragen und das Haus zu behalten. Zwei Jahre später starb sie an einem Herzleiden. Aber in der Zeit davor hatte sie jedes Mal, wenn Nathaniels Name in einer Zeitung oder in den Nachrichten auftauchte, von seiner Hilfsbereitschaft erzählt. Ich wusste also, dass er nicht so unerbittlich sein konnte, wie die Welt glaubte.
Und als ich dann von seinen … pikanteren Vorlieben erfuhr, begannen meine Fantasien. Sie hielten an. Und hielten an. Sie hielten so lange an, bis mir klar wurde, dass ich sie ausleben musste.
So rollte ich an diesem Freitagabend um 17.45 Uhr in einem Wagen mit Chauffeur durch die Einfahrt auf sein Anwesen – ohne jegliches Gepäck außer meiner Handtasche und meinem Mobiltelefon.
An der Haustür stand ein großer Golden Retriever, ein schönes Tier mit eindringlichen Augen. Er beobachtete mich, als ich aus dem Wagen stieg und zur Tür ging.
»Braver Junge«, sagte ich und streckte die Hand aus. Ich war kein großer Fan von Hunden, aber wenn Nathaniel einen hatte, musste ich mich an ihn gewöhnen.
Winselnd lief der Hund zu mir und steckte seine Schnauze in meine Hand.
»Braver Junge«, sagte ich nochmals.»So brav.«
Er kläffte kurz, wälzte sich auf dem Boden und ließ mich seinen Bauch kraulen. Okay, dachte ich, vielleicht sind Hunde doch nicht soübel.
»Apollo«, sagte eine sanfte Stimme aus der Eingangstür.»Komm.«
Apollo hob den Kopf, leckteüber mein Gesicht, trottete zu Nathaniel und stellte sich neben ihn.
»Wie ich sehe, haben Sie bereits mit ihm Bekanntschaft geschlossen.« Nathaniel war leger gekleidet: leichter grauer Pullover und dunkelgraue Hosen. Dieser Mann hätte noch in einer Papiertüte unverschämt gut ausgesehen.
»Ja«, sagte ich und strich mir eingebildeten Schmutz von der Hose.»Er ist wirklich süß.«
»Keineswegs«, korrigierte mich Nathaniel.»Fremde empfängt er in der Regel eher unfreundlich. Sie hatten großes Glück, dass er nicht nach Ihnen geschnappt hat.«
Ich sagte nichts. Nathaniel wandte sich um und ging ins Haus. Er schaute sich nicht einmal um, ob ich ihm folgte. Aber natürlich folgte ich ihm.
»Wir essen heute am Küchentisch zu Abend«, sagte er und führte mich durch die Eingangshalle. Ich versuchte das Umfeld zu erkunden – eine feinsinnige Mischung aus Antikem und Zeitgenössischem ?, konnte die Augen aber kaum von dem Mann lassen, der mir vorausging.
Wir schritten einen langen Korridor mit mehreren Türen entlang, während er redete.»Sie können den Küchentisch als Freiraum betrachten. Sie werden an ihm die meisten Mahlzeiten einnehmen. Wenn ich mich zu Ihnen setze, können Sie das als Aufforderung auffassen, sich frei zuäußern. Die meiste Zeit dienen Sie mir im Speisezimmer, aber ich dachte, wir beginnen den Abend weniger förmlich. Verstanden?«
»Jawohl, Herr.«
Er wandte sich um. In seinen Augen blitzte ein Anflug von Zorn auf.»Nein. Sie haben noch nicht das Recht, mich so zu nennen. Bis es so weit ist, reden Sie mich mit›Sir‹ oder›Mr West‹ an.«
»Jawohl, Sir«, sagte ich.»Es tut mir leid, Sir.«
Er ging weiter.
Die Anredeformen waren eine Grauzone. Ich hatte nicht gewusst, was mich erwartete. Immerhin hatte er nicht allzu verärgert gewirkt.
Er zog einen Stuhl unter einem kunstvoll geschnitzten Tisch hervor und wartete, bis ich mich setzte. Dann ließ er sich schweigend mir gegenüber nieder.
Das Abendessen stand bereits auf dem Tisch. Ich wartete, bis er einen Bissen genommen hatte, und fing zu essen an – ein köstliches Mahl: geschmortes Hühnerbrüstchen mit einer delikaten Honig-Mandel-Soße. Das Huhn schmeckte so gut, dass ich die Beilagen ? grüne Bohnen und Möhren – fast links liegen ließ.
Am Ende dämmerte mir, dass außer uns niemand im Haus war.»Haben Sie das gekocht?«, fragte ich.
Er neigte leicht den Kopf.»Ich bin ein Mann mitvielen Talenten, Abigail.«
Ich rutschte auf meinem Stuhl hin und her. Schw