: Thomas Bernhard
: Wittgensteins Neffe Eine Freundschaft
: Suhrkamp
: 9783518785102
: 1
: CHF 12.00
:
: Gegenwartsliteratur (ab 1945)
: German
: 176
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB

Mit seiner 1982 vorgelegten Arbeit über die Geschichte einer Freundschaft führt Bernhard seine Autobiographie, die Beschreibung seiner Kindheit und Jugend in fünf Bänden, weiter in die Jahre 1967 bis 1979. Bei einem Sanatoriumsaufenthalt vertiefte sich seine Freundschaft mit Paul Wittgenstein, die in leidenschaftlichen Diskussionen über Musik begonnen hatte. Paul Wittgenstein, der Neffe Ludwig Wittgensteins, maturierte am Theresianeum in Wien und studierte danach Mathematik. Seit seinem 35. Lebensjahr brach seine Nervenkrankheit immer wieder durch. Anfänglich finanziell sehr gut gesichert durch die Reichtümer einer der reichsten Familien Österreichs, verschenkte er sein Vermögen unbekümmert an Freunde und Arme, bis er selber in Armut dahinvegetierte. In seinen letzten Lebensjahren vereinsamte er mehr und mehr, nur noch mit seinem Freund Thomas Bernhard verbunden. Bernhards Notizen sind zum Bericht der Sterbegeschichte des Paul Wittgenstein geworden. Zwölf Jahre hindurch hatte er das Sterben seines Freundes beobachtet. Und durch diese Beobachtung hat sich auch die Selbstbeobachtung Thomas Bernhards verschärft - so daß durch den Porträtierten auch das Bild des Porträtisten starke Konturen gewinnt.



<p>Thomas Bernhard, 1931 in Heerlen (Niederlande) geboren, starb im Februar 1989 in Gmunden (Oberösterreich). Er zählt zu den bedeutendstenösterreichi chen Schriftstellern und wurde unter anderem 1970 mit dem Georg-Büchner-Preis und 1972 mit dem Grimme-Preis ausgezeichnet. Der Suhrkamp Verlag publiziert eine Werkausgabe in 22 Bänden.</p>

Neunzehnhundertsiebenundsechzig legte mir auf derBaumgartnerhöhe eine der im dortigen Pavillon Hermann unermüdlich tätigen geistlichen Schwestern meine gerade erschieneneVerstörung, die ich ein Jahr vorher in Brüssel in der rue de la croix 60 geschrieben habe, auf das Bett, aber ich hatte nicht die Kraft, das Buch in die Hand zu nehmen, weil ich ein paar Minuten vorher erst aus einer mehrstündigen Narkose aufgewacht war, in die mich jene Ärzte versetzt hatten, die mir den Hals aufschnitten, um aus meinem Brustkorb einen faustgroßen Tumor herausoperieren zu können. Ich erinnere mich, es war der Sechstagekrieg und als Folge meiner radikal an mir vorgenommenen Cortisonbehandlung entwickelte sich meinMondgesicht, wie von den Ärzten gewünscht; während der Visite kommentierten sie dieses Mondgesicht auf ihre witzige Art, die selbst mich, der ich, nach ihrer eigenen Aussage,nur noch Wochen, im besten Fall Monate zu leben hatte, zum Lachen brachte. Im Pavillon Hermann gab es ebenerdig nur sieben Zimmer, an die dreizehn oder vierzehn Patienten erwarteten in ihnen nichts anderes als den Tod. Sie schlürften in hauseigenen Schlafröcken auf dem Gang hin und her und verschwanden eines Tages auf immer. Jede Woche einmal tauchte der berühmte Professor Salzer, die größte Kapazität auf dem Sektor der Lungenchirurgie im Pavillon Hermann auf, immer in weißen Handschuhen und mit einem ungeheuer respekteinflößenden Gang, beinahe lautlos umschwirrt von den geistlichen Schwestern, die ihn, der sehr groß und sehr elegant war, in den Operationssaal geleiteten. Dieser berühmte Professor Salzer, von welchem sich die Klassepatienten operieren ließen, weil sie alles auf seine Berühmtheit setzten (ich selbst hatte mich vom Oberarzt der Station operieren lassen, einem untersetzten Bauernsohn aus dem Waldviertel), war ein Onkel meines Freundes Paul, eines Neffen des Philosophen, dessenTractatus logico-philosophicus heute die ganze wissenschaftliche, mehr noch die ganze pseudowissenschaftliche Welt kennt und gerade als ich auf dem Pavillon Hermann lag, lag mein Freund Paul auf dem Pavillon Ludwig an die zweihundert Meter weiter, welcher aber nicht, wie der Pavillon Hermann, zur Lungenabteilung und also zur sogenanntenBaumgartnerhöhe gehörte, sondern zur IrrenanstaltAm Steinhof. Auf dem Wilhelminenberg mit seiner ungeheueren Ausdehnung im Westen von Wien, der seit Jahrzehnten in zwei Teile geteilt ist, eben in den für die Lungenkranken, der kurz alsBaumgartnerhöhe bezeichnet wird und der mein Areal war und in den für die Geisteskranken, den die Welt alsAm Steinhof kennt, der kleinere alsDie Baumgartnerhöhe, der größere alsAm Steinhof, haben die Pavillons männliche Vornamen. Es war schon ein grotesker Gedanke, meinen Freund Paul ausgerechnet im Pavillon Ludwig zu wissen. Wenn ich den Professor Salzer sah, wie er, ohne einen Seitenblick, auf den Operationssaal zustrebte, dachte ich jedesmal daran, daß mein Freund Paul seinen Onkel immer wieder abwechselnd ein Genie oder einen Mörder genannt hat und ich dachte beim Anblick des Professors, ging er nun in den Operationssaal hinein, oder kam er aus diesem heraus, geht nun ein Genie hinein oder ein Mörder, kommt ein Mörder heraus oder ein Genie. Von dieser medizinischen Berühmtheit ging für mich eine große Faszination aus. Ich hatte ja bis zu meinem Aufenthalt im Pavillon Hermann, der auch heute noch ausschließlich der Lungenchirurgie vorbehalten und vor allem auf die sogenannte Lungenkrebschirurgie spezialisiert ist, schon viele Ärzte gesehen und alle diese Ärzte auch, weil es mir schließlich zur Gewohnheit geworden war,studiert, aber der Professor Salzer hatte schon gleich vom ersten Augenblick an, in welchem ich ihn gesehen habe, alle