: Thomas Bernhard
: Alte Meister Komödie
: Suhrkamp
: 9783518785003
: 1
: CHF 13.00
:
: Gegenwartsliteratur (ab 1945)
: German
: 310
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB

Das Durchbrechen einer jahrzehntealten Gewohnheit führt in dem 1985 zuerst erschienenen Prosaband mit dem Untertitel »Komödie« von Thomas Bernhard dazu, daß der Privatgelehrte Atzbacher und der Musikphilosoph Reger sich an zwei aufeinanderfolgenden Tagen im Wiener Kunsthistorischen Museum treffen. Atzbacher nimmt diese außergewöhnliche Verabredung zum Anlaß, den in seine Betrachtung versunkenen Reger zu beobachten. Der Zweiundachtzigjährige, der seit dreißig Jahren aus Wien für dieTimes Musikkritiken schreibt, hat im Kunsthistorischcn Museum seine Kunstbetrachtung zur Perfektion entwickelt: Sie besteht darin, jedes Kunstwerk, das für vollendet gehalten wird, so lange zu studieren, bis dessen Fehler aufgedeckt sind. Alle Alten Meister und Großen Geister sind unvollkommen. Daß Kunst, Musik, Philosophie und Literatur jedoch nicht das »Höchste, Allerhöchste« sind, wird Reger bewußt, als seine Frau stirbt, mit der er mehr als drei Jahrzehnte verheiratet war.



<p>Thomas Bernhard, 1931 in Heerlen (Niederlande) geboren, starb im Februar 1989 in Gmunden (Oberösterreich). Er zählt zu den bedeutendstenösterreichi chen Schriftstellern und wurde unter anderem 1970 mit dem Georg-Büchner-Preis und 1972 mit dem Grimme-Preis ausgezeichnet. Der Suhrkamp Verlag publiziert eine Werkausgabe in 22 Bänden.</p>

Es ist ganz klar, daß eines dieser Tintorettogemälde eine Fälschung ist, sagte der Engländer dann, sagte Reger, entweder ist das hier gefälscht, das hier im Kunsthistorischen Museum, oder meins, dasüber meinem Bett hängt in meinem Schlafzimmer in Wales.Eins von beiden muß eine Fälschung sein, sagte der Engländer und drückte seinen kräftigen Körper für kurze Zeit an die Bordone-Saal-Sitzbankrückenlehne; gleich richtete er sich aber wieder auf und sagte, da hat mein Neffe also doch recht gehabt. Ich habe meinen Neffen verflucht, denn ich war mir doch sicher, daß er mir einen Unsinn erzählt hat, wie es die Art dieses Neffen ist, mich nämlich von Zeit zu Zeit zu beunruhigen in irgendeiner Sache oder mich vor den Kopf zu stoßen; er istübrigens mein Lieblingsneffe, obwohl er mir zeit seines Lebens auf die Nerven geht und im Grunde nichts wert ist. Aber er ist mein Lieblingsneffe. Er ist der fürchterlichste aller meiner Neffen, aber mein Lieblingsneffe. Er hat richtig gesehen, sagte der Engländer, tatsächlich, der Tintoretto hier ist mit meinem in Wales identisch.Aber es gibt zwei Tintorettos, sagte der Engländer dann und lehnte sich wieder an der Bordone-Saal-Sitzbank an, um sich gleich wieder aufzurichten. Einer von beiden ist falsch, sagte er, und ich frage mich natürlich, ist meiner falsch, oder der hier im Kunsthistorischen Museum. Möglich ist es ja, daß das Kunsthistorische Museum eine Fälschung besitzt und daß mein Tintoretto echt ist, das ist sogar, wie ich die Zusammenhänge meiner Glasgow-Tante kenne, wahrscheinlich. Schon kurz nachdem Tintoretto diesenWeißbärtigen Mann gemalt hat, ist dieserWeißbärtige Mann ja nach England verkauft worden, zuerst an die Familie des Herzogs von Kent, dann an meine Glasgow-Tante.Übrigens ist der heutige Herzog von Kent mit einerÖsterreicherin verheiratet, das wissen Sie doch, sagte der Engländer plötzlich zu mir, sagte Reger, einer kurzen Ablenkung zuliebe, um dann gleich darauf zu sagen, daß mit Sicherheit der Tintoretto hier, also derWeißbärtige Mann hier im Kunsthistorischen Museum, eine Fälschung sei.Eine ganz ausgezeichnete Fälschung, sagte der Engländer dann. Ich werde sehr bald herausbekommen, welcherWeißbärtige Mann von Tintoretto nun der echte und welcher der gefälschte ist, sagte der Engländer, sagte Reger, und dann, daß es aber auch durchaus möglich sei, daß beideWeißbärtigen Männer echt sind, also von Tintoretto und echt sind. Nur einem so großen Künstler wie Tintoretto mag es, so der Engländer, so Reger, tatsächlich gelungen sein, ein zweites Gemälde nichtals ein vollkommen gleiches, sondern als vollkommen dasselbe zu malen. Das wäre dann immerhin eine Sensation, sagte der Engländer, sagte Reger, und ging aus dem Bordone-Saal hinaus. Er hat sich nur mit einem kurzenGood bye von mir verabschiedet, mit dem gleichenGood bye auch noch von Irrsigler, der Zeuge der ganzen Szene gewesen war, so Reger zu mir. Wie die Sache ausgegangen ist, weiß ich nicht, sagte Reger, ich habe mich nicht mehr darum gekümmert. Jedenfalls, der Engländer war derjenige, so Reger, der einmal auf der Bordone-Saal-Sitzbank gesessen ist, wie ich in den Bordone-Saal eingetreten bin. Kein anderer. Reger bildet sich die Bordone-Saal-Sitzbank seitüber dreißig Jahren ein, er behauptet, daß er nicht ordentlich, das heißt,nicht seinem Kopf entsprechend denken könne, wenn er nicht auf der Bordone-Saal-Sitzbank sitzt. Im Ambassador habe ich sehr gute Gedanken, so Reger immer wieder einmal, auf der Bordone-Saal-Sitzbank im Kunsthistorischen Museum aber habe ich die besseren, zweifellos immer die besten Gedanken, kommt im Ambassador kaum ein sogenanntes philosophisches Denken in Gang, ist es doch auf der Bordone-Saal-Sitzbank eine Selbstverständlichkeit. Im Ambassador denke ich wie jeder andere auch denkt, das Alltägliche und das alltäglich Notwendige, auf der Bordone-Saal-Sitzbank aber denke ich immer mehr das Außergewöhnliche und das Außerordentliche. Beispielsweise sei es ihm im Ambassador nicht möglich, dieSturmsonate in derselben konzentrierten Weise wie auf der Bordone-Saal-Sitzbank zu erläutern und einen Vortrag zu halten wie denüber die Kunst der Fuge in allen seinen Tiefen und in allen seinen Besonder- und Absonderheiten, sei ihm im Ambassador völlig unmöglich,dazu fehlt im Ambassador jede Voraussetzung, so Reger. Auf der Bordone-Saal-Sitzbank sei es ihm möglich, selbst die kompliziertesten Gedanken aufzugreifen und zu verfolgen und schließlich zu einem interessanten Ergebnis zusammenzubringen, im Ambassador nicht. Aber das Ambassador hat natürlich eine Reihe von Vorzügen, die das Kunsthistorische Museum nicht hat, sagte Reger, ganz abgesehen davon, daß ich jedesmal von der Toilette im Ambassador begeistert bin, seit diese Toilette kürzlich neugebaut worden ist, wissen Sie, das ist in Wien, wo ja tatsächlich alle Toiletten so verwahrlost sind wie in keiner anderen größeren Stadt Europas, doch eine Seltenheit, eine Toilette vorzufinden, in welcher es einem nicht den Magen umdreht und in welcher man sich nicht die ganze Zeit, während man sich in ihr aufhält, Augen und Nase unbedingt zuhalten muß; die Wiener Toiletten sind insgesa