: Thomas Bernhard
: Holzfällen Eine Erregung
: Suhrkamp
: 9783518784907
: 1
: CHF 17.00
:
: Gegenwartsliteratur (ab 1945)
: German
: 336
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB

Holz ällen ist die Geschichte einer »Erregung«, die Geschichte eines »künstlerischen Abendessens« in Wien, in der Gentzgasse. Der Ich-Erzähler, ein Schriftsteller, sitzt auf dem Ohrensessel und beobachtet die Gesellschaft, die auf den Schauspieler des Burgtheaters wartet, der versprochen hatte, gegen halb zwölf zu diesem Essen zu kommen.



<p>Thomas Bernhard, 1931 in Heerlen (Niederlande) geboren, starb im Februar 1989 in Gmunden (Oberösterreich). Er zählt zu den bedeutendstenösterreichi chen Schriftstellern und wurde unter anderem 1970 mit dem Georg-Büchner-Preis und 1972 mit dem Grimme-Preis ausgezeichnet. Der Suhrkamp Verlag publiziert eine Werkausgabe in 22 Bänden.</p>

Wir glauben, wir sind zwanzig und handeln danach und sind in Wirklichkeitüber fünfzig und sind total erschöpft, dachte ich, gehen mit uns wie mit zwanzig um und ruinieren uns und gehen mit allen andern auch so um, als wären wir zwanzig und sind fünfzig und halten in Wirklichkeit gar nichts mehr aus, vergessen auch, daß wir ein Leiden haben, mehrere, viele Leiden zusammen, sogenannteTodeskrankheiten, mit welchen wir schon die längste Zeit zu existieren haben, was wir aber ignorieren und gar nicht für wahr halten die längste Zeit, während es doch immer da ist, fortwährend, lebenslänglich und uns eines Tages umbringt, ja gehen mit uns um, als hätten wir noch die Kräfte, die wir vor dreißig Jahren gehabt haben, während wir nicht einmal mehr einen Bruchteil dieser Kräfte vor dreißig Jahren haben, nichts mehr von diesen Kräften, dachte ich auf dem Ohrensessel. Denn vor dreißig Jahren hat es mir nicht das geringste ausgemacht, zwei, drei Nächte hintereinander auf zu sein und beinahe ununterbrochen zu trinken, gleich was, und mich alsUnterhaltungsmaschine zu produzieren, mehrere Nächte allen möglichen Leuten, die damals alle Freunde gewesen sind, den Narren zu machen rund um die Uhr, wie gesagt wird, ohne den geringsten Schaden zu nehmen und ich bin ja tatsächlich viele Jahre, so denke ich jetzt, erst um drei oder vier Uhr früh nach Hause gekommen, also erst im Vogelgezwitscher ins Bett, ohne daß es mir im geringsten geschadet hätte. Jahrelang habe ich denApostelkeller und alle möglichen unterirdischen Lokale in der Inneren Stadt gegen elf aufgesucht, um sie nicht vor drei oder vier Uhr früh zu verlassen und ich habe mich in diesen Nächten immer voll und also völlig verausgabt, wie gesagt werden kann, mit jeneräußersten Rücksichtslosigkeit, die mir damals zueigen gewesen ist und die mir damals, wie ich heute denke,überhaupt nicht geschadet hat. Und gerade mit der Joana habe ich so viele Nächte verplaudert und vertrunken, daß sie gar nicht gezählt werden können, dachte ich auf dem Ohrensessel. Tatsächlich hatte ichüberhaupt kein Geld und auch sonst nichts und habe doch jahrelang die Nächte bis zumäußersten verplaudert und vertrunken, verredet und vertanzt, kann ich sagen, gerade mit der Joana und ihrem Mann und mit der Jeannie Billroth und vor allem immer wieder mit dem Ehepaar Auersberger. Damals habe ich alle Kräfte, die ein junger Mensch haben kann, gehabt und mich skrupellos von allen, die etwas gehabt haben, aushalten lassen, dachte ich auf dem Ohrensessel. Ich habe keinen Groschen in der Tasche gehabt und habe mir doch alles leisten können, dachte ich auf dem Ohrensessel, die Gäste im Musikzimmer beobachtend. Und so viele Jahre bin ich tagtäglich, muß ich sagen, schon am späteren Nachmittag zur Joana in die Simmeringer Hauptstraße hinaus, vorher noch zum Dittrich um die Weinflaschen aufzunehmen in meinen Armen, um mit der Joana zusammen zu sein bis in der Frühe und mit dem erstenEinundsiebziger in die Stadt zurück zu fahren oder ganz einfach von ihr aus zu Fuß die Simmeringer Hauptstraße zurück, den Rennweg hinunter,über den Schwarzenbergplatz bis nach Währing. Das waren noch Zeiten, dachte ich auf dem Ohrensessel, wie noch die Pferdewagen vor den Milchgeschäften Halt gemacht haben in der Nacht und ich mitten auf dem Rennweg und querüber den Schwarzenbergplatz und den vollkommen leeren Ring entlang nach Hause gehen habe können ohne fürchten zu müssen,überfahren zu werden. Wennüberhaupt einen Menschen, so bin ich bei diesen Gelegenheiten doch nur Meinesgleichen und das heißt, einem Betrunkenen begegnet, und ein die Nacht durchkreuzendes Automobil war eine Seltenheit. Niemehr im Leben habe ich so viele italienische Arien gesungen, wie damals auf dem Weg von der Simmeringer Hauptstraße auf den Rennweg undüber den Schwarzenbergplatz nach Währing, dachte ich auf dem Ohrensessel. Damals hatte ich die Kraft, zu gehenund zu singen, dachte ich auf dem Ohrensessel, heute habe ich nicht mehr die Kraft,zu gehen und zu sprechen, das ist der Unterschied. Dreißig Jahre ist es her, daß ich ohne weiteres an die fünfzehn Kilometer in der Nacht nach Hause gegangen bin, dachte ich auf dem Ohrensessel,singend, in meiner damaligen Mozart- und Verdibegeisterung dem Rausch freien Lauf lassend. Dreißig Jahre ist es her, dachte ich auf dem Ohrensessel, daß ich auf diese Weise Operngeschichte gemacht habe, dreißig Jahre. Tatsächlich hätte ich ohne die Joana, dachte ich jetzt auf dem Ohrensessel, einen anderen Weg genommen, wäre möglicherweise den entgegengesetzten gegangen, wenn ich, diesen Gedanken noch weiter zurück verfolgend, den Auersberger nicht kennen gelernt hätte. Denn den Auersberger kennen gelernt zu haben, bedeutete im Grunde die Umkehr zum Künstlerischen, von welchem ich mich ja nach dem Abschluß des Mozarteums schon gä