: Cees Nooteboom
: Der Umweg nach Santiago
: Suhrkamp
: 9783518736951
: 1
: CHF 17.00
:
: Gegenwartsliteratur (ab 1945)
: German
: 426
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Als Cees Nootebooms Reisebericht erstmals erscheint, ist man sich einig: Mit Der Umweg nach Santiago liegt das Spanienbuch schlechthin vor. Nooteboom bricht von Barcelona nach Santiago de Compostela auf, ohne jede Eile, denn der Weg ist das Ziel. Der große niederländische Erzähler ergänzt sein erfolgreiches Reisebuch nun durch weitere Texte über das Land seiner Leidenschaft.

<p>Cees Nooteboom wurde am 31. Juli 1933 in Den Haag geboren. 1955 erschien sein erster Roman<em>Philip en de anderen</em>, der drei Jahre später auch in Deutschland unter dem Titel<i>Das Paradies ist nebenan</i> veröffentlicht wurde (und 2003 in der Neuübersetzung von Helga van Beuningen unter dem Titel<i>Philip und die anderen</i> erneut eine große Lesergemeinde fand). Nooteboom berichtete 1956 als junger Autorüber den Ungarn-Aufstand, 1963über den SED-Parteitag, und fünf Jahre späterüber die Studentenunruhen in Paris (gesammelt in dem Band<i>Paris, Mai 1968</i>). Seine inzwischen in mehreren Bänden gesammelten Reiseberichte, die weniger Reportagen als vielmehr von genauer Beobachtung getragene, reflektierende Betrachtungen sind, festigten Nootebooms Ruf als Reiseschriftsteller. 1980 fand Nooteboom zurück zur fiktionalen Prosa und erzielte mit dem inzwischen auch verfilmten Roman<i>Rituale</i&g ; (<em>Rituelen</em> ) große Erfolge. Sein umfangreiches Werk, das in viele Sprachenübersetzt ist, umfasst Erzählungen, Berichte, Gedichte und vor allem große Romane wie<i>Allerseelen</i gt; (<em>Allerzielen</em gt;). Die elf Bände seiner<i>Gesammelten Werke</i>enthalten neben den bereits publizierten Büchern zahlreiche erstmals auf deutsch vorliegende Texte. Der Quarto-Band<em>Romane und Erzählungen</em> versammelt die gesamte fiktionale Prosa des Autors.<br /> Cees Nooteboom lebt in Amsterdam und auf Menorca.</p>

DURCH ARAGONIEN NACH SORIA


Beweisen läßt es sich nicht, und trotzdem glaube ich daran: An manchen Orten der Erde erhält auf geheimnisvolle Weise die eigene Ankunft oder Abreise durch die Empfindungen all jener eine besondere Intensität, die hier früher einmal angekommen beziehungsweise wieder abgereist sind. Wer eine Seele hat, die leicht genug ist, spürt einen sanften Widerstand in der Luft rund um den Amsterdamer Schreierstoren, der mit dem Ausmaß an Kummer der Abschiednehmenden zusammenhängt, die im 17. Jahrhundert für Jahre nach Niederländisch-Indien auf brachen und möglicherweise nie zurückkehren würden– eine Art von Kummer, die wir nicht mehr kennen. Unsere Reisen dauern nicht mehr Jahre, wir wissen genau, wohin wir fahren, und unsere Chance auf Rückkehr ist um so vieles größer. Am Hauptportal der Kathedrale von Santiago de Compostela steht eine Marmorsäule mit tiefen Fingereindrücken, eine emotionale, expressionistischeKlaue, die Millionen Hände, unter anderem auch meine, geschaffen haben. Doch es ist bereits eine leichte Verdrehung, wenn ich sage»unter anderem meine«, denn ich habe meine Hand nie mit solch großer Gefühlsregung am Ende eines Fußmarsches, derüber ein Jahr dauerte, an diese Säule gelegt. Ich war kein Mensch des Mittelalters, ich glaubte nicht, und ich war mit dem Auto gekommen. Wenn man sich meine Hand wegdenkt, wenn ich nie dort gewesen bin, ist diese Klaue trotzdem noch immer da, von den Fingern all jener Toten aus dem harten Marmor ausgeschliffen. Und doch war ich, indem ich meine Hand in dieses Handnegativ legte, auf geheimnisvolle Weise an einem kollektiven Kunstwerk beteiligt. Ein Gedanke wird sichtbar in Materie: Das ist immer wundersam. Die Kraft einer Idee trieb Fürsten, Bauern und Mönche dazu, ihre Hand genau an der Stelle an die Säule zu legen, jede einzelne Hand nahm dabei eine verschwindend kleine Menge des harten Marmors mit, wodurch, eben weil dieser Marmornicht mehr da war, eine Hand sichtbar wurde.

Dies alles geht mir durch den Kopf, während ich langsam, an diesem sehr frühen Julimorgen, mit dem Schiff auf Barcelona zufahre. Dort werde ich ein Auto mieten und quer durch ganz Spanien oder auch mit einem Schlenker zum dritten Mal in meinem Leben nach Santiago de Compostela fahren. Keine Pilgerfahrt zu dem Apostel wie bei den anderen, eher eine Reise in ein schemenhaft gewordenes Ich, die Fortsetzung einer früheren Reise. Auf der Suche wonach? Eines der wenigen konstanten Dinge in meinem Leben ist meine Liebe, einen schwächeren Ausdruck dafür gibt es nicht, zu Spanien. Frauen und Freunde sind aus meinem Leben verschwunden, doch ein Land läuft einem nicht so leicht weg. Als ich 1953 als Zwanzigjähriger zum ersten Mal nach Italien kam, glaubte ich, alles gefunden zu haben, wonach ich, unbewußt, gesucht hatte. Der mediterrane Glanz traf mich wie ein Blitz, das ganze Leben war ein geniales,öffentliches Theater zwischen den achtlos hingestreuten Dekorationsstücken einer vieltausendjährigen großen Kultur. Farben, Speisen, Märkte, Kleidung, Gesten, Sprache, alles schien raffinierter, bunter, lebhafter als in dem flachen nördlichen Delta, aus dem ich komme, und zog mich in seinen Bann. Spanien war danach eine Enttäuschung. Unter derselben mediterranen Sonne schien die Sprache hart, die Landschaft dürr, das Leben derb. Es schien nicht zu fließen, war nicht angenehm, war auf eine widerspenstige Weise alt und unnahbar, mußte erobert werden. Heute habe ich eine ganz andere Einstellung dazu. Italien ist noch immer ein Traum, aber ich habe das Gefühl– es ist kaum möglich,über diese Dinge zu sprechen, ohne in eine fast mystische Sprache zu verfallen–, daß der Charakter Spaniens und die spanische Landschaft dem entsprechen,»was mich ausmacht«, bewußten und unbewußten Dingen in meinem Wesen, dem, der ich bin. Spanien ist brutal, anarchistisch, egozentrisch, grausam, Spanien ist bereit, sich für Unsinn in den Ruin zu stürzen, es ist chaotisch, es träumt, es ist irrational. Es hat die Welt erobert und wußte nichts damit anzufangen, es steckt in seiner mittelalterlichen arabischen, jüdischen und christlichen Vergangenheit fest und liegt mit seinen eigensinnigen Städten, eingebettet in diese endlosen, leeren Landschaften, da wie ein Kontinent, der an Europa hängt und Europa nicht ist. Wer nur die Pflichtrundfahrt gemacht hat, kennt Spanien nicht. Wer nicht versucht hat, sich in der labyrinthischen Vielschichtigkeit seiner Geschichte zu verlieren, weiß nicht, welches Land er bereist. Es ist eine Liebe fürs ganze Leben, das Staunen hört nie auf.

Die Kathedrale von Santiago de Compostela

Von der Reling des Schiffes aus sehe ich esüber der Insel dunkel werden, auf der ich den Sommer verbracht habe. Die hereinbrechende Nacht legt sichüber die Hügel, alles verdüstert sich, eine nach der anderen gehen die hohen Neonlampen an und bescheinen den Kai mit der toten weißen Glut, die zur mediterranen Nacht gehört wie der Mond. Ankunft und Abschied, schon jahrelang ziehe ich zwischen dem spanischen Festland und den Inseln hin und her. Die weißen Schiffe sind etwas größer geworden, doch das Ritual ist das gleiche geblieben. Der Kai voller weißer Matrosen, Abschiednehmender und Verlobter, das Deck voll abreisender Urlauber, Soldaten, Kinder, Großmütter. Die Gangway ist bereits an Bord gehievt, die Schiffssirene wird noch einmal einen langen Abschiedsschreiüber den Hafen ertönen lassen, und die Stadt wird ihn als Echo zurückwerfen, den gleichen Schrei, nur schwächer. Zwischen Oben und Unten noch eine letzte Verbindung– Toilettenpapierrollen. Unten das Ende. Oben an der Reling die Rolle selbst, die langsam, während das Schiff sich vom Kai entfernt, abgeroll