: Thomas Bernhard
: Argumente eines Winterspaziergängers Zwei Fragmente zu Frost
: Suhrkamp
: 9783518730348
: 1
: CHF 24.00
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: Gegenwartsliteratur (ab 1945)
: German
: 147
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Im Mai 1963 erschien in einer Auflage von 2000 Exemplaren Thomas Bernhards Roman »Frost« im Insel Verlag. Gleich nach Erscheinen erregte der Roman größte Aufmerksamkeit: Noch nie hatten die Rezensenten und Leser derartig aufwühlende Sätze über einen froststarren, finsteren Ort namens Weng im höchsten Österreich gelesen. Der Maler Strauch beschimpfte an dieser Stelle Gott und die Welt, erkannte um sich herum nur Kranke, Kretins und Todgeweihte. (Für den Roman erhielt Bernhard nicht nur den Bremer Literaturpreis, sondern auch den Österreichischen Staatspreis für Literatur, was die Gemeinde Weng zu heftigen Protesten beim Bundesminister wegen Verleumdung einer ganzen Gemeinde veranlasste.) Um das Irritationspotenzial dieses Romans einzugrenzen, verlegten die Interpreten sich schon bald darauf, die sinnlosen, widersinnigen Wortkaskaden des Malers als prototypisch für einen pathologischen Charakter anzusehen, der seinerseits prototypisch den Zerfall unserer Gegenwart vorlebt. Aus den vielen Vorstufen zu »Frost« präsentiert dieser Band aus Anlass des 50-jährigen Erscheinens eine frühe Fassung, in der ein Eisenbahner mit dem Namen Leichtlebig bei einer Kur in Schwarzach (bei Goldegg-St.Veit) einem Lehrer begegnet und mit ihm ausgedehnte Spaziergänge unternimmt. Die zweite der für diesen Band ausgewählten Vorstufen datiert aus der Zeit unmittelbar vor der Fertigstellung des Romans: Die »Argumente eines Winterspaziergängers« gab Thomas Bernhard seinem Freund Gerhard Fritsch, damit dieser sie in der von ihm herausgegebenen Zeitschrift »Wort in der Zeit« publizierte: Bernhard hat für diese Vorabveröffentlichung des Romans signifikante Passagen aus diesem zusammengestellt und sie zu einem 19-seitigen Manuskript zusammengefügt - eine Veröffentlichung kam allerdings nicht zustande.

<p>Thomas Bernhard, 1931 in Heerlen (Niederlande) geboren, starb im Februar 1989 in Gmunden (Oberösterreich). Er zählt zu den bedeutendstenösterreichi chen Schriftstellern und wurde unter anderem 1970 mit dem Georg-Büchner-Preis und 1972 mit dem Grimme-Preis ausgezeichnet. Der Suhrkamp Verlag publiziert eine Werkausgabe in 22 Bänden.</p>

Während der Doktor schwieg, dachte Leichtlebig an Attnang, an das große schwarze Gestrüpp von Geleisen, die ihm zum Schicksal geworden sind.

Zuweilen, wenn er von der Arbeit nach Hause kam, setzte er sich, die nasse [?] Uniform noch am Körper, ans Fenster und schaute hinaus; sein Zimmer war klein und das Fenster ermöglichte ihm die Enge seines Zimmers nicht so zu empfinden, daß es ihn gleich wieder traurig machte. Er dachte bei solchen Gelegenheiten an die Arbeit im Stellwerk, die er den ganzen Tagüber geleistet hatte und an die Kollegenschaft, die sich seit vielen Jahren nicht geändert hat und die sich in der gleichen Lage wie er befindet. Kontakt hatte er mit seinen Kollegen kaum, er fiel in keiner Weise auf, versuchte auch möglichst nicht aufzufallen an seiner Arbeitsstätte; er reagierte, wenigstens reinäußerlich auf alles so wie auch die andern darauf reagierten; er hatte um halbsechs Uhr zu erscheinen. Um neun Uhr machten sie eine Pause von fünf Minuten. Um zwölf Uhr gingen sie in die Bahnhofsrestauration essen und um ein Uhr arbeiteten sie schon weiter. Um fünf Uhr abends ging er nach Hause. Hatte er Nachtdienst, mußte er um halbfünf Uhr im Stellwerk sein, in der Frühe um sechs war er fertig. Mit dem, was er verdiente, fand er sein Auslangen, wenn er sich auch gern mehr geleistet hätte, aber er muckte nicht auf. Das lag ihm auch nicht. Den Umgang mit der Gewerkschaft, in heiklen und weniger heiklen Angelegenheiten, besorgten andere für ihn. Er war kein Wortführer, also auch kein Rädelsführer und er stach weder durch eine besondere Leistung seinem staatlichen Dienstgeber gegenüber hervor, noch trat er seinen Mitarbeitern außergewöhnlich in Erscheinung. Aber sie haben ihn gern leiden mögen. Dessen war er sich auch bewußt und wenn er also zum Beispiel in seinem Zimmer vor dem Fenster saß, befriedigte ihn dieser Gedanke, nicht ganz und gar, aber er dachte ihn gern. Die meiste Zeit unterhielt er sich mit sich selber, ab und zu ging er in die Gaststätte, zweimal in der Woche traf er sich mit zweien seiner Arbeitskollegen auf einer Versammlung der Partei, der er angehörte. Dort haben sie ihm nie eine bedeutendere Funktion gegeben und ihm auch keine zugetraut, dabei war er ja nicht unfähig und er hätte schon so manchen guten Einfall gehabt, nur hatte er ihn nicht geäußert. Die Parteiversammlungen waren für ihn mehr oder weniger eine Sache der Abwechslung, er war dort nicht so allein, und sie tranken ja auch und lachten und machten sich gegenseitig auf verschiedene Neuigkeiten politischer und anderer Natur aufmerksam. Er hatte das Geld, das in der Parteikasse zusammenkam, zu verwalten, ja, das war auch ein Amt. Er erschien in seiner Uniform zu den Versammlungen, denn zum Umziehen hatte er zu wenig Zeit. Er fühlte sich deshalb nicht ganz wohl, denn die anderen hatten ihre Zivilkleider an. Es gab nur drei oder vier von sechsundsiebzig, die nicht bei der Eisenbahn oder bei der Post waren. Sie hatten auch Vorlesungen aus Büchern, meistens politischen Büchern, und einmal im Monat kam eine Theatergruppe und spielte ihnen einen Schwank vor, und viermal im Monat hatten sie Filmvorführung. Die Frau einesälteren Mitgliedes machte am Buffet, das gleich neben dem Eingang errichtet war, Dienst, sie konnten sich da Fleisch und Wurst und Brot und Bier kaufen. Im Grunde genommen, war es doch recht gemütlich. Jeden zweiten Dienstag kam ein Vortragender aus Linz oder gar aus Wien und machte sie mit besonders augenfälligen Neuigkeiten bekannt. Sie applaudierten und waren auch jederzeit zu Mißfallenskundgebungen aufgelegt, nur kam es nie zu solchen. An seinem Fenster sitzend dachte Leichtlebig, wenn er sich besonders allein fühlte, ob er noch fortgehen oder schon ins Bett gehen solle. Er entschloß sich meistens noch zu einem kurzen Ausflug in die Gaststätte»Zum Mohrensitz« hinunter, gingüber den Eisenbahnsteg, schlug den Weg durch das Frachtenbahnhofsgelände ein; er trank ein Glas Bier, ließ sich eine Essigwurst machen, schaute irgendwelchen immer gleichen Spielern und Säufern beim Schnapsen oder Watten zu und ging dann wieder nach Hause. Oft nahm er dann noch einen Fetzen in die Hand und wischte die paar Möbelstücke ab, die in seinem Zimmer standen: Kasten, Tisch, Bett, die zwei Sessel, die Bücherstellage. Er hatte ein paar Bücher, zum Teil Erbstücke von einem Verwandten, der viele Bücher gelesen und einen untergeordneten Ingenieurberuf ausgeübt hatte, zum Teil selber angeschaffte politischer Natur, Geschichtenbücher, Bücher mit Verhaltungsmaßregeln, die er sich auf Vorschlag der Parteizeitung besorgt hatte. Wenn er sein Zimmer mit den Zimmern seiner Kollegen verglich, fühlte er sich in seinem Zimmer wohl. Es war sauber und hatte den Vorteil, trocken zu sein zum Unterschied von allen anderen, die er kannte; alle Attnanger Zimmer sind feucht. Als sein Vater gestorben war, hatte er aus dessen Dienstwohnung ausziehen müssen, die Eisenbahnverwaltung hatte ihn dann in dieses Zimmer eingewiesen. Die Möbel und das Geschirr und die Bettwäsche, die sein Vater noch besessen hatte, lauter Anschaffungen seiner schon viel früher verstorbenen Mutter, hatte seine Stiefschwester nach Innsbruck mitgenommen. Nur einen der beiden Sessel hatte sie ihm zurückgelassen. Zwei Leintücher. Die Waschschüssel. Leichtlebig dachte, als er sich jetzt beeilte den Doktor, der ein paar Dutzend Schritte weiter voraus ging, als er, einzuholen, daß er es trotz allem doch gar nicht so schlecht getroffen habe. Es ist doch ein Vorteil gewesen, die Werkstättenlehrzeit abgeschlossen zu haben, sich für den Stellwerkskurs gemeldet zu haben; das hat ihm ermöglicht, um seine Versetzung ins Stellwerk anzusuchen; er macht jetzt schon vier Jahre dort Dienst. Ohne die Werkstättenlehrzeit und ohne den Stellwer