: Peter Sloterdijk
: Mein Frankreich
: Suhrkamp
: 9783518757703
: 1
: CHF 12.00
:
: Philosophie
: German
: 248
: Wasserzeichen/DRM
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB/PDF
Die selbst gestellte Frage, wie man sein Werk am knappsten charakterisieren könne, beantwortete Peter Sloterdijk mit dem Hinweis, er sei ein »philosophierender Schriftsteller«. Damit ist der Erfolg seiner Bücher erklärt. Seine Überlegungen, seine Reflektionen und Analysen sind von einem einzigartigen Stil durchdrungen: Sie plausibilisieren durch die geschliffene Form, die Formulierung, die treffende Metapher, die ironische Übertreibung. Diese Art des Philosophierens hat ihre Ursprünge in Frankreich. Deshalb ist es nicht verwunderlich, wenn die Kapitel seines Werkes, in denen er sich mit Frankreich, dem Land und seinen Denkern auseinandersetzt, besonders fulminant sind. Der vorliegende Band versammelt Betrachtungen Peter Sloterdijks zur französischen Geschichte und Philosophie vom 18. Jahrhundert bis in die Gegenwart, von Voltaire bis Derrida, von der Französischen Revolution bis Sarkozy, und er erklärt, warum die Erbfeinde Deutschland und Frankreich sich politisch und kulturell immer weiter voneinander entfernen.

<p>Peter Sloterdijk wurde am 26. Juni 1947 als Sohn einer Deutschen und eines Niederländers geboren. Von 1968 bis 1974 studierte er in München und an der Universität Hamburg Philosophie, Geschichte und Germanistik. 1971 erstellte Sloterdijk seine Magisterarbeit mit dem Titel<em>Strukturalismu als poetische Hermeneutik</em>. In den Jahren 1972/73 folgten ein Essay über Michel Foucaults strukturale Theorie der Geschichte sowie eine Studie mit dem Titel<em>Die Ökonomie der Sprachspiele. Zur Kritik der linguistischen Gegenstandskonstitution</e >. Im Jahre 1976 wurde Peter Sloterdijk von Professor Klaus Briegleb zum Thema<em> Literatur und Organisation von Lebenserfahrung. Gattungstheorie und Gattungsgeschichte der Autobiographie der Weimarer Republik 1918-1933</em> promoviert. Zwischen 1978 und 1980 hielt sich Sloterdijk im Ashram von Bhagwan Shree Rajneesh (später Osho) im indischen Pune auf. Seit den 1980er Jahren arbeitet Sloterdijk als freier Schriftsteller. Das 1983 im Suhrkamp Verlag publizierte Buch<em>Kritik der zynischen Vernunft</em> zählt zu den meistverkauften philosophischen Büchern des 20. Jahrhunderts. 1987 legte er seinen ersten Roman<em>Der Zauberbaum</em> vor. Sloterdijk ist emeritierter Professor für Philosophie und Ästhetik der Staatlichen Hochschule für Gestaltung in Karlsruhe und war in Nachfolge von Heinrich Klotz von 2001 bis 2015 deren Rektor.</p>

Jean-Jacques Rousseau

Die zweite Urszene in der Entfaltung des europäischen Freiheitsbegriffs spielt auf Schweizer Boden, und zwar im Herbst 1765. Durch ihren einzigen Zeugen, der zugleich die Hauptperson im Geschehen darstellt, besitzen wir von ihr eine relativ ausführliche Kenntnis. Längst hatte die Schweiz zu dieser Zeit eine Schlüsselrolle in der Geschichte des erneuerten republikanischen Freiheitsgedankens inne, doch sollte sie, wie gleich zu zeigen ist, eine ebenso bedeutende Rolle in der zu jenem Zeitpunkt an Fahrt aufnehmenden Geschichte der modernen Subjektivität erhalten. Der Held der Geschichte ist niemand anderes als der aus Genf gebürtige Jean-Jacques Rousseau, in jenem Jahr dreiundfünfzig Jahre alt, ein Mann auf der Flucht. Seit seinem vierzigsten Lebensjahr eine europäische Berühmtheit, nachdem er im Jahr 1750 den Preis der Lyoner Akademie gewonnen hatte, war er zu Anfang der sechziger Jahre– nach Veröffentlichung von Erfolgsbüchern wieJulie oder die Neue Héloïse (1761) (nahezu einhundert Auflagen bis 1800), demContrat social (1762) und demÉmile (1762)– in den Rang einer Skandalperson aufgestiegen. In heutiger Terminologie würde man sagen: Er hatte die Beförderung vom Star zum Superstar geschafft. Insbesondere hatte das faszinierendste Stück aus demÉmile, das»Glaubensbekenntnis des savoyardischen Vikars«, das als Manifest einer pantheistischen Herzensreligion gelesen wurde, dem Verfasser die Feindschaft des hohen Klerus von Paris und die des Genfer Establishments eingebracht; es waren Haftbefehle ergangen und Aufenthaltsgenehmigungen widerrufen worden. In der Nacht vom 6. auf den 7. September 1765 bewarf anonymer Pöbel das Wohnhaus Rousseaus in Môtiers im damals preußischen Kanton Neuchâtel mit Steinen– ein Ereignis, das der Autor noch zwölf Jahre später als»Steinigung« (lapidation) beschrieb.1 Erstaunlicherweise kam ihm nie in den Sinn, diese Angriffe durch sein eigenes Auftreten provoziert zu haben, hatte er sich in Môtiers doch im Kostüm eines reisenden Armeniers, mit schlafrockartigem Kaftan und kecker Pelzmütze, präsentiert. Das erinnert an andere Medienstars des letzten Jahrhunderts und auch der Gegenwart, denen jede Verkleidung recht ist, um ihre Andersheit hervorzukehren. Man kann wohl resümierend sagen, Rousseau hat die Gesetze moderner Prominenz nie begriffen. Ein Ehrenplatz in der Geschichte der beginnenden Massenkultur kommt ihm dennoch zu. Er war nicht der erste Weltberühmte, der seine Laufbahn in Verbitterung beschloß. Ein noch größerer Ehrenplatz gebührt ihm in der Geschichte der Psychologie: Er war der Kronzeuge der Erkenntnis, daß es Paranoiker gibt, die wirklich verfolgt werden.

In seiner bedrängten Lage faßte Rousseau den Entschluß, sich gemeinsam mit seiner ihm unentbehrlichen, ihn tyrannisch bewundernden Lebensgefährtin Marie-Thérèse Le Vasseur auf eine fast menschenleere Insel inmitten des Bieler Sees zurückzuziehen. Fleißige Biographen haben die Daten seines Aufenthalts auf derÎle St. Pierre vom 12. September bis zum 25. Oktober 1765 präzise ermittelt– die Insel wurde schon bald zu einem Wallfahrtsort der Rousseau-Verehrung. Diese Tage sind ideengeschichtlich von hoher Bedeutung, weil sich an ihnen so etwas wie der Urknall der modernen Subjektivitätspoesie ereignete, die unmittelbar in Freiheitsphilosophieüberging– sofern man dem Bericht des Autors in denTräumereien eines einsamen Spaziergängers von 1776/77 Glauben schenken darf. Den Ausdruck Urknall muß ich allerdings sofort zurücknehmen, da es sich in Wahrheit nicht um ein explosives, sondern um ein fast unmerkliches Geschehen von eher implosivem oder kontemplativem Charakter handelte. Rousseau hat die Szene in dem legendärenFünften Spaziergang derTräumereien anschaulich wiedergegeben. An manchen sonnigen Herbsttagen war der verfolgte Autor, inzwischen zur Ruhe gekommen und vom Charme der stillen Insel bezaubert, mit einem Ruderboot auf den See hinausgefahren. Irgendwo weit draußen ließ er die Ruder sinken und legte sich rücklings auf den Boden des Boots, um sich seiner liebsten Beschäftigung hinzugeben. Erüberließ sich einem inneren Driften, das der Autor mit dem Wortrêverie, Träumerei, umschrieb. Man könnte dieses seelische Fließen, das an keinem Thema haftet, auch als ungegenständliche Meditation bezeichnen– im europäischen, nicht im fernöstlichen Sinn des Ausdrucks. Rousseau sagt selbst, mitunter habe er sich stundenlang treiben lassen, dabei sei er in Träumereien versunken, die keine