Es ist immer schwer, geboren zu werden ... der Vogel hat Mühe, aus dem Ei zu kommen ... man muß seinen Traum finden, dann wird der Weg leicht. Aber es gibt keinen immerwährenden Traum, jeden löst ein neuer ab, und keinen darf man festhalten wollen.
Die Not der Jugend ... hört mit der Jugend nicht auf, geht sie aber doch am meisten an. Es ist der Kampf um die Individualisierung, um das Entstehen einer Persönlichkeit.
Nicht jedem Menschen ist es gegeben, eine Persönlichkeit zu werden, die meisten bleiben Exemplare und kennen die Nöte der Individualisierung gar nicht. Wer sie aber kennt und erlebt, der erfährt auch unfehlbar, daß diese Kämpfe ihm mit dem Durchschnitt, dem normalen Leben, dem Hergebrachten und Bürgerlichen in Konflikt bringen. Aus den zwei entgegengesetzten Kräften, dem Drang nach einem persönlichen Leben und der Forderung der Umwelt nach Anpassung, entsteht die Persönlichkeit. Keine entsteht ohne revolutionäre Erlebnisse, aber der Grad ist natürlich bei allen Menschen verschieden, wie auch die Fähigkeit, ein wirklich persönliches und einmaliges Leben (also kein Durchschnittsleben) zu führen ...
Der werdende junge Mensch, wenn er den Drang zu starker Individualisierung hat, wenn er vom Durchschnittsund Allerwelts-Typ stark abweicht, kommt notwendig in Lagen, die den Anschein des Verrückten haben ... Es gilt nun nicht, seine»Verrücktheiten« der Welt aufzuzwingen und die Welt zu revolutionieren, sondern es gilt, sich für die Ideale und Träume der eigenen Seele gegen die Welt so viel zu wehren, daß sie nicht verdorren. Die dunkle Innenwelt, wo diese Träume zu Hause sind, ist beständig bedroht, sie wird von den Kameraden verspottet, von den Erziehern gemieden, sie ist kein fester Zustand, sondern ein beständiges Werden.
Unsre Zeit macht es da den Feineren in der Jugend besonders schwer. Es bestehtüberall das Streben, die Menschen gleichförmig zu machen und ihr Persönliches möglichst zu beschneiden. Dagegen wehrt sich unsre Seele, mit Recht.
Ein Lebensweg mag von gewissen Situationen aus noch so sehr determiniert erscheinen, er trägt doch stets alle Lebensund Wandlungsmöglichkeiten in sich, deren der Mensch selbst irgend fähig ist. Und die sind desto größer, je mehr Kindheit, Dankbarkeit, Liebefähigkeit wir haben.
Mit der Selbstbeschränkung des Berufes und des Mannesalters muß man seine Jugend nicht begraben.»Jugend« ist das in uns, was Kind bleibt, und je mehr dessen ist, desto reicher können wir auch im kühlbewußten Leben sein.
Welchen Beruf ein junger Mann auch wähle, und wie seine Auffassung vom Beruf und sein Eifer für ihn auch sei– immer tritt er damit in eine organisierte, erstarrte Welt aus dem blühenden Chaos des Jugendtraumes, und immer wird er enttäuscht sein. Diese Enttäuschung mag an sich kein Schade sein, Ernüchterung kann auch Sieg bedeuten. Aber die meisten Berufe, und zwar gerade die»höheren«, spekulieren in ihrer jetzigen Organisation auf die egoistischen, feigen, bequemen Instinkte des Menschen. Er hat es leicht, wenn er fünfe grade sein läßt, wenn er sich duckt, wenn er den Herrn Vorgesetzten nachahmt; und er hat es unendlich schwer, wenn er Arbeit und Verantwortlichkeit sucht und liebt.
Wie die Herden-Jünglinge sich mit diesen Dingen abfinden, geht mich nichts an. Die Geistigen finden hier eine gefährliche Klippe. Sie sollen die Berufe, gerade auch die staatlich organisierten Berufe, nicht fliehen, sie sollen sie probieren! Aber sie sollen sich nicht vom Beruf abhängig machen.
Was Du im Leben leistest, und zwar nicht nur als Künstler, sondern ebenso als Mensch, als Mann und Vater, Freund und Nachbar etc., das wird vom ewigen»Sinn« der Welt, von der ewigen Gerechtigkeit nicht nach irgendeinem festen Maß gemessen, sondern nach deinem einmaligen und persönlichen. Gott wird dich, wenn er dich richtet, nicht fragen:»Bist du ein Hodler geworden, oder ein Picasso, oder ein Pestalozzi oder Gotthelf?« Sondern er wird fragen:»Bist du auch wirklich der gewesen und geworden, zu dem du die Anlagen und Erbschaften mitbekommen hast?« Und da wird niemals ein Mensch ohne Scham oder Schrecken seines Lebens und seiner Irrwege gedenken, er wird höchstens sagen können:»Nein, ich bin es nicht geworden, aber ich habe es wenigstens nach Kräften versucht.« Und wenn er das aufrichtig sagen kann, dann ist er gerechtfertigt und hat die Probe bestanden.
Wenn solche Vorstellungen wie»Gott« oder»ewiger Richter« etc., dich stören, so kannst du sie ruhig weglassen, auf sie kommt es nicht an. Es kommt einzig darauf an, daß jedem von uns ein Erbe und eine Aufgabe mitgegeben ist, er hat von Vater und Mutterseite, von vielen Ahnen her, von seinem Volk, seiner Sprache her gewisse Eigenschaften, gute und böse, angenehme und schwierige geerbt, Talente und Mängel, und all dies zusammen ist er, und dies Einmalige ... hat er zu verwalten und zu Ende zu leben, reif werden zu lassen und schließlich mehr oder weniger vollkommen zurückzugeben. Es gibt da Beispiele von unvergeßlichem Eindruck, die Weltgeschichte und Kunstgeschichte ist voll davon: daß zum Beispiel einer, so wie in vielen Märchen, der Dumme und Unnütze in einer Familie ist, und daß gerade ihm eine Hauptrolle zufällt, und daß grade dadurch, daß er seinem Wesen so treu bleibt, alle Begabteren und Erfolgreichen neben ihm klein werden.
Da gab es zum Beispiel im Anfang des vorigen Jahrhunderts in Frankfurt die hochbegabte Familie Brentano, von deren fast zwanzig Kindern zwei noch heute berühmt sind, die Dichter Clemens und Bettina. Nun, alle diese vielen Geschwister waren hochbegabte, interessante,überdurchschnittliche Leute, sprühende Geister, glänzende Talente; nur derÄlteste war und blieb einfältig, er lebte sein ganzes Leben lang wie ein stiller Hausgeist im Vaterhaus, zu nichts zu brauchen, er war fromm als Katholik, geduldig und gutmütig als Bruder und Sohn, und wurde inmitten der witzigen und lustigen Geschwisterschar, bei der es oft exzentrisch zuging, immer mehr zu einem schweigenden Mittel- und Ruhepunkt, einem wunderlichen Haus-Kleinod, von dem Frieden und Güte ausstrahlte. Von diesem Einfältigen, diesem Kindgebliebenen, sprechen die Geschwister mit einer Ehrfurcht und Liebe wie von keinem anderen Menschen. So war also auch ihm, dem Trottel, dem Blöden, sein Sinn und sein Auftrag mitgegeben, und er hat ihn vollkommener erfüllt als alle die glänzenden Geschwister.
Kurz, es kommt, wenn ein Mensch das Bedürfnis hat, sein Leben zu rechtfertigen, nicht auf eine objektive, allgemeine Höhe der Leistung an, sondern eben darauf, daß er sein Wesen, das ihm Mitgegebene, so völlig und rein wie möglich in seinem Lebe