»A slöschung« ist der Titel einer Niederschrift, die Franz-Josef Murau in seinem letzten Lebensjahr in Rom verfaßt hat und die Thomas Bernhard zugänglich macht. Diese Aufzeichnungen waren für Murau unumgänglich geworden, da in ihnen ein Thema im Zentrum steht, das seine ganze Existenz zerstört hat, nämlich seine Herkunft. Dieser »Herkunftskomplex« läßt sich mit dem Namen eines Ortes bezeichnen: Wolfsegg. Hier ist Murau aufgewachsen, hat er den Entschluß gefaßt, daß er, will er sich, seine geistige Existenz retten, Wolfsegg verlassen muß. Obwohl er deshalb beabsichtigt, Wolfsegg zu meiden, muß er dennoch dorthin reisen: seine Eltern und sein Bruder sind bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Dieser erneute Wolfsegg-Aufenthalt macht Murau deutlich, daß er sich von Wolfsegg endgültig lösen muß. Er faßt den Entschluß, über Wolfsegg zu schreiben, und zwar mit dem Ziel, das in diesem Bericht »Beschriebene auszulöschen, alles auszulöschen, das ich unter Wolfsegg verstehe, und alles, das Wolfsegg ist«.
Denn wenn wir uns mit einem dieser Philosophen beschäftigen, Gambetti, hatte ich zu ihm gesagt, sind wir unverschämt, wenn wir uns getrauen, sie anzupacken und ihnen sozusagen die philosophischen Eingeweide bei lebendigem Leib herauszureißen. Wir sind immer unverschämt, wenn wir ein philosophisches Werk angehen, aber ohne diese Unverschämtheit kommen wir nicht heran, kommen wir philosophisch nicht weiter. Tatsächlich haben wir mit der größten Grobheit und Roheit an diese philosophischen Schriften heranzugehen und an ihre Hervorbringer, die wir uns immer als unsere Feinde vorzustellen haben, als unsere furchtbarsten Gegner, Gambetti. Ich muß gegen Schopenhauer auftreten, wenn ich begreifen will, gegen Kant, gegen Montaigne, gegen Descartes, gegen Schleiermacher, verstehen Sie. Ich muß gegen Voltaire sein, will ich mich mit ihm auf die redlichste Weise auseinandersetzen mit einiger Aussicht auf Erfolg. Aber meine bisherigen Auseinandersetzungen mit den Philosophen und ihren Produkten sind bis jetzt ziemlich erfolglos gewesen. Bald wird das Leben vorbei, meine Existenz ausgelöscht sein, hatte ich zu Gambetti gesagt, und ich habe nichts erreicht, es ist mir alles ziemlich fest verschlossen geblieben. Wie die Auseinandersetzung mit mir selbst bis heute ziemlich erfolglos geblieben ist. Ich bin mein Feind und gehe gegen mich philosophisch vor, hatte ich zu Gambetti gesagt, ich gehe mit allen mir möglichen Zweifeln an mich heran und ich versage. Ich erreiche nicht das Geringste. Den Geist muß ich als Feind betrachten und gegen ihn vorgehen auf die philosophische Weise, hatte ich zu Gambetti gesagt, um ihn tatsächlich genießen zu können. Aber dazu ist wahrscheinlich meine Zeit zu kurz, wie sie eben alle eine zu kurze Zeit gehabt haben, das größte Unglück des Menschen, daß seine Zeit immer und in jedem Fall zu kurz ist, hat die Erkenntnis immer unmöglich gemacht. So hat es immer nur ein Angenähertes gegeben, ein Beinahe, alles andere ist Unsinn. Wenn wir denken und nicht aufhören zu denken, was wir Philosophieren nennen, kommen wir schließlich darauf, daß wir falsch gedacht haben. Alle haben sie bisher falsch gedacht, sie mögen gleich welche Namen getragen haben, sie mögen gleich was für Schriften geschrieben haben, aber sie haben nicht von selbst aufgegeben, hatte ich zu Gambetti gesagt, nicht mit ihrem Willen, nur durch den Willen der Natur, durch Krankheit, Wahnsinn, Tod am Ende. Sie hatten nicht aufhören wollen, war es ihnen noch so entbehrungsreich, entsetzlich, noch so grauenhaft gegen alle Regel und gegen alle Warnungen. Aber sie hatten sich alle immer nur eingesetzt für falsche Schlüsse, hatte ich zu Gambetti gesagt, am Ende doch für nichts, gleich, was dieses Nichts ist, hatte ich zu Gambetti gesagt, von welchem wir wissen, daß es zwar nichts ist, aber doch gleichzeitig auch nicht existent sein kann, an welchem alles scheitert, an welchem alles aufhört, zu Ende ist am Ende. Ich war auch an diesem Abend, anstatt gleich die angekündigte Beschreibung von Wolfsegg zu geben, die Gambetti noch auf der Flaminia für die Piazza del Popolo versprochene, auf einen meiner von mir selbst immer am meisten gefürchteten Exkurse gekommen, die ich meine philosophierenden zu nennen mir angewöhnt habe, weil sie sich in den letzten Jahren häufen, weil sie so fließend sind wie die Philosophie an sich, wie alles Philosophische, ohne daß sie tatsächlich mit Philosophie etwas anderes zu tun hätten, als ihren Beweggrund. Anstatt gleich die angekündigte Beschreibung von Wolfsegg zu geben, hatte ich Gambetti etwasüber Nietzsche gesagt, das ich besser nicht gesagt hätte, etwasüber Kant, das sogar völlig unsinnig gewesen war, etwasüber Schopenhauer, das ich zuerst selbst als besonders qualifiziert angesehen, dann aber doch als ziemlich verrückt hatte erkennen müssen schon nach wenigen Augenblicken, etwasüber Montaigne, das ich selbst nicht verstanden habe schon in dem Moment, in welchem ich es Gambetti gegenüber gesagt hatte; denn kaum hatte ich diesen Montaigne betreffenden Ausspruch Gambetti gegenüber getan, hatte mich dieser gebeten, ich möge ihm meinen gerade ausgesprochenen Ausspruch erklären, wozu ich aber nicht imstande gewesen war, weil ich schon in der gleichen Sekunde selbst nicht mehr gewußt hatte, wasüberhaupt ichüber Montaigne gesagt hatte. Wir sagen etwas und sehen ganz klar und wissen im nächsten Augenblick gar nicht mehr, was wir gerade gesagt haben, hatte ich zu Gambetti gesagt, ich habe gerade etwasüber Montaigne gesagt, weiß aber jetzt, zwei, drei Sekunden später, gar nicht mehr, was wirklich und tatsächlich ich geradeüber Montaigne gesagt habe. Wir müßten die Fähigkeit haben, etwas zu sagen, auszusprechen also und dieses gerade Ausgesprochene gleichzeitig zu protokollieren in unserem Kopf, das ist aber nicht möglich, hatte ich zu Gambetti gesagt. Ich weiß gar nicht mehr, warum ich etwasüber Montaigne in diesem Augenblick gesagt habe, hatte ich zu Gambetti gesagt, naturgemäß noch weniger, wasüber Montaigne. Wir glauben, wir haben es schon so weit gebracht, daß wir eine Denkmaschine sind, aber wir können uns auf das Denken dieser unser