II
Ein Pfeifen zerriß die Dunkelheit. Mechanisch streckte er die Hand aus und stellte den Wecker ab. Halb acht! Davidöffnete die Augen, drückte seinen Körper gegen das Gewicht des Schlafes und richtete sich auf.
Es regnete. Tropfen schlugen gegen das Glas und malten durchsichtige, nach unten zerrinnende Kreise. Er hatte Kopfschmerzen. Sein Mund war ausgetrocknet, bis tief hinunter in die Kehle. Er räusperte sich, schlug die Decke zurück und stieg aus dem Bett.
Einen Moment lang war ihm schwindlig. Die Formeln in seinem Gedächtnis: Ja, sie waren da, sie waren alle noch da. Er ging zum Fenster undöffnete es. Feuchtigkeit wehte ihm ins Gesicht; er kniff die Augen zusammen. Auf der Straße bewegten sich aufgespannte Regenschirme; ein Mann hielt sich eine Zeitungüber den Kopf; ein Kind in einem Gummimantel sprang in eine Pfütze, das Kind sah auf, und für einen Augenblick begegneten sich ihre Blicke: es lächelte. Ein Straßenkehrer fegte Glasscherben zusammen, das Wasser rann von seiner Pelerine. Neben ihm ragte eine Laterne kopflos auf.
David trat zurück, schloß das Fenster und ließ sich in den Sessel fallen. Er starrte lange auf seinen Schreibtisch. Dann griff er nach dem Telefonhörer.
»Ja?« Frau Wimmer, die Sekretärin, kam immer schon vor acht ins Institut.
»Ich bin es«, sagte er,»ich kann nicht kommen. Ich fühle mich nicht gut.«
»Grippe?«
»Wahrscheinlich. Sie müssen jemanden für die Einführung finden.«
»Herr Doktor Mahler, dafür erreiche ich jetzt wirklich keinen ...«
»Sie müssen aber. Ich kann nicht!« David hörte sie Luft holen, aber er kam ihr zuvor und legte auf.
Erüberlegte einen Moment. Dann nahm er einen Bleistift, setzte die Spitze auf ein Blatt Papier und– begann. Es mußte aufgezeichnet werden. Er zögerte einen Moment: die Vierecke auf dem Papier lösten sich in einander kreuzende Schlangenlinien auf. Er rieb sich die Augen. Die Linien flossen aufeinander zu und erstarrten wieder zu winzigen, gleichmäßig leeren Kästchen. Quadrate, die darauf warteten, gefüllt zu werden. Die bereitstanden, alles, was er wußte, aufzunehmen.
Und er schrieb.
Von Zeit zu Zeit sah er auf: Der Wind wurde kräftiger. Sprühregen prasselte gegen Hauswände und Fenster; auf der Straße bückten sich Menschen, senkten die Köpfe, schoben beim Gehen eine Schulter vor oder stellten sich in Hauseingänge und warteten. Auf den Autofenstern schlugen die Scheibenwischer hin und her. Drei kleine Mädchen liefen vorbei, die Münder offen, die Gesichter naß dem Himmel zugekehrt, ein Hund folgte ihnen mit am Körper klebendem Fell. Da hörte der Regen auf. Aber erst nach einigen Minuten klappte ein Schirm zu, dann der nächste, dann fast alle. Der Himmel warüberzogen von weißen Schlieren; sie wuchsen, schienen in die Breite zu fließen, und dann, wie durch eine chemische Umwandlung, wurde das Grau zu verschwimmender Helligkeit, leuchtendem Dunst. Vom Asphalt stiegen Schwaden weißer Feuchtigkeit. Ein Hund wälzte sich in einer schrumpfenden Pfütze. Die Wolken rissen auf; und endlich, umrahmt von einem Stück Blau, als bleiche Rundung gespiegelt in allen Pfützen, allen Windschutzscheiben, allen ihr zugewandten Fenstern, war die Sonne da. Der Hund rollte sich aus der Pfütze, zögerte einen Moment, trank einen Schluck des sich verfärbenden Wassers und rannte davon. Eine Glasscherbe am Rand des Bürgersteigs blinkte auf, gekrümmt wie ein hohler Spiegel, Splitter eines zerbrochenen Laternenkopfes.
David erschrak. Er fror. Für einen langen Moment wußte er nicht, wo er sich befand. Etwas war geschehen. Als wäre ein Riß durch ihn gegangen, als hätte ein Teil von ihm ihn verlassen; und plötzlich spürte er eine Bewegung: Etwas kam auf ihn zu. Vor ihm auf dem Tisch lag ein Stoß von dreißig beschriebenen Blättern, bekritzelt in einer großen, zittrigen Schrift: leicht schiefe Kolonnen von Zahlen, Skizzen, Kurven, die sich in weiten Bögenüber das Papier schlängelten, Diagramme, die keinen Sinn zu haben schienen, beschriftet mit Zeichen, die er hatte erfinden müssen; aber all das war, wenn man es begriff, von leuchtend perfekter Klarheit. Wie spät war es? Die Sonne blendete ihn, brannte in seinen Augen, legte ein Gefühl feuchter Wärme auf seine Stirn.
David stand auf. Seine Glieder taten weh, seine Beine waren steif, und es fiel ihm schwer, die Arme auszustrecken. Auf dem Nachttisch lag noch immer seine Armbanduhr. Es war fast drei.
Er schaltete die Kaffeemaschine ein. Im Badezimmerspiegel betrachtete er eine Weile sein Gesicht. Dick und rötlich, mit einer breiten Nase und deutlich abstehenden Ohren; er hatte dieses Gesicht noch nie gerne gesehen. Er rasierte und wusch sich, ging in die Küche, trank drei Tassen Kaffee und spürte beunruhigt, wie sein Herz schneller pochte.
Er ging zu seinem Schreibtisch zurück. Im Bücherregal darüber standen aufgereiht die Werke von Newton, Boltzmann, Zermelo, Mach, Einstein, Prigogine, Valentinov. Daneben zehn Jahrgänge derFacetten der Physik in fünf dicken Sammelordnern, die er auswendig kannte. Tatsächlich auswendig: er wußte jedes Wort, das darin stand. Er griff nach dem Telefonhörer und wählte eine Nummer.
»Ja?« sagte Marcels Stimme.»Was?«
»Ich habe es geschafft. Ich habe die Lösung.«
»David, das paßt mir gerade nicht gut. Ich bin beim Weggehen ...«
»Ich habe es gelöst.«
Marcel schwieg. Dann hustete er.»Wirklich?«
»Ja.«
»Gratuliere«, sagte Marcel.»Treffen wir uns morgen? Um zehn?«
David antwortete nicht.
»Schön«,