: Jan-Werner Müller
: Wo Europa endet Ungarn, Brüssel und das Schicksal der liberalen Demokratie
: Suhrkamp
: 9783518740767
: 1
: CHF 8.00
:
: Politik, Gesellschaft, Wirtschaft
: German
: 79
: Wasserzeichen/DRM
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB/PDF
Kann es innerhalb der EU eine Diktatur geben? Eine Frage, die man noch vor Kurzem als Gedankenspiel abgetan hätte, stellt sich angesichts der Entwicklungen in Ungarn und Rumänien plötzlich ganz real. Wie hat Europa darauf bislang reagiert? Was kann, was darf Brüssel tun? Jan-Werner Müller erläutert die Hintergründe der Situation in Ungarn und entwickelt robuste Kriterien für Interventionen zum Schutz der Demokratie.

<p>Jan-Werner Müller, geboren 1970, lehrt Politische Theorie und Ideengeschichte an der Princeton University. Im Suhrkamp Verlag erschienen bislang<em>Verfassungsp triotismus</em>,<em& t;Das demokratische Zeitalter. Eine politische Ideengeschichte Europas im 20. Jahrhundert</em> und<em>Was ist Populismus? Ein Essay</em> (2016).<em>Was ist Populismus?</em> wurde in zahlreiche Sprachenübersetzt und gilt als zentraler Text zum Verständnis zeitgenössischer politischer Entwicklungen. Jan-Werner Mülleräußert sich regelmäßig zum Zeitgeschehen; er schreibt u. a. für Foreign Affairs, die Neue Zürcher Zeitung, die New York Times und die Süddeutsche Zeitung.</p>

Einleitung: Rechtsstaat auf dem Rückzug– oder: Wer ist der Hüter der Demokratie in Europa?


Kann es innerhalb der Europäischen Union eine Diktatur geben? Vor ein paar Jahren wäre solch eine Frage noch als interessante Gedankenspielerei von politischen Theoretikern abgetan worden. Angesichts der dramatischen Entwicklungen in einigen Mitgliedsländern sind wir jedoch ernsthaft mit einem Szenario konfrontiert, das in Brüssel bislang nieöffentlich thematisiert wurde: nämlich dass die Demokratisierungsprozesse in den (relativ) neuen EU-Staaten vielleicht doch umkehrbar sein könnten. Man denke an Rumänien, wo im Sommer 2012 ein vom Parlament initiierter»kalter Coup« nur knapp scheiterte, und vor allem an Ungarn, wo die Regierung des national-populistischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán den Rechtsstaat seit 2010 immer weiter aushöhlt und– so viele Kritiker im In- und Ausland– dabei ist, eine illiberale oder»gelenkte« Demokratie zu errichten.1 Mit anderen Worten: Die Vorstellung, wer einmal im exklusiven Club der EU angekommen sei, wer es auf die von Frieden, Freiheit und Wohlstand gekennzeichnete Insel der Seligen geschafft habe, könne sich doch unmöglich wieder unseligen Formen von Politik zuwenden, scheint falsch. Die EU ist nicht– oder zumindest nicht mehr– automatisch ein Garant für liberale Demokratie oder gar, wie Ulrich Beck dies einmal formulierte, ein»Synonym« für Demokratie.2

Doch sind es nicht nur die relativ jungen EU-Mitglieder, die zu Sorgenkindern der EU-Familie geworden sind: In Griechenland ist die rechtsextreme Partei»Goldene Morgendämmerung« auf dem Vormarsch; manche Beobachter sehen Athen bereits weit fortgeschritten auf dem Weg nach Weimar: Der griechische Staat büßt tagtäglich an Autorität ein, paramilitärische Organisationen machen die Straßen unsicher (auch wenn sie natürlich mit dem Anspruch auftreten, die Straßen vor»illegalen Immigranten« sicher zu machen). Die Mitglieder und Anhänger von»Chrysi Avgi«– so der griechische Name der Rechtsextremen– nennen ganz offen Ioannis Metaxas, den Diktator der dreißiger Jahre, als ihr Vorbild; man stellt sich bewusst als»Bewegung« dar; und die Symbolik ihrer Werbespots lässt keinen Zweifel am faschistischen Charakter der Partei.3

Wie soll sich der Rest Europas zu solchen Entwicklungen verhalten? Und vor allem: Soll Brüssel etwas tun?Darf Brüssel etwas tun? Anders gefragt: Sollte die EU heute als Hüterin der Demokratie agieren und die europäischen Völker sozusagen vor sich selbst (oder wenigstens vor ihren eigenen Regierungen) schützen? Oder wird Brüssel dadurch zu einem paneuropäischen Polit-Polizisten, der Bürgern von Lappland bis Lampedusa das einzig wahre Demokratieverständnis vorschreibt? Ist Brüssel nicht vielleicht selbst zumindest teilweise die Ursache für Entwicklungen wie in Griechenland? Ist die»Goldene Morgendämmerung« nicht auch die Folge der eisigen, harten Polarnacht der scheinbar nie enden wollenden Eurokrise?

Die Gefahr eines supranationalen Paternalismus sollte man ernst nehmen. Und die politische Situation in den einzelnen EU-Ländern darf in der Tat nicht isoliert betrachtet werden, ganz so, als seien alle Probleme hausgemacht. Nichtsdestotrotz: Prinzipiell, so die These dieses Essays, ist die EU legitimiert, zum Schutz nationaler Demokratien in Mitgliedsländern zu intervenieren. Und sie sollte auch intervenieren– nach sorgfältiger Urteilsbildung und anhand von Kriterien, welche im zweiten und dritten Kapitel dieses Buches entwickelt werden. Brüssel ist nicht der einzige institutionalisierte Hüter der liberalen Demokratie in Europa (nationale Verfassungsgerichte und der Europarat sind es beispielsweise auch)– aber die Union ist potenziell ein besonders effektiver Akteur nicht nur der Demokratieförderung, wie man es in Beitrittsstaaten regelmäßig beobachten kann, sondern auch des Demokratieschutzes auf dem Kontinent.

Gegen diesen Gedanken wird immer wieder eine Reihe von Einwänden vorgebracht– nicht zuletzt im Namen dezidiert demokratischer Werte. So heißt es beispielsweise: Da die EU selbst an einem eklatanten Demokratiedefizit leide, könne sie auch nicht in Mitgliedsstaaten als Protektor der Demokratie auftreten. Oder es wird moniert, dass es ein gemeinsames europäisches Demokratieverständnis eigentlich gar nicht gebe. In Sonntagsreden würden die»europäischen Werte« unverdrossen bemüht– wer aber genauer hinschaue, werde im Detail doch sehr divergierende Auffassungen beispielsweise von parlamentarischer Souveränität und individuellen Rechten finden. Und auch wer nicht prinzipiell gegen EU-Interventionen zur Demokratiesicherung ist, kritisiert, dass die Union bei derartigen Interventionen heuchlerisch auftrete: Gegen Jörg HaidersÖsterreich habe man im Jahre 2000 schweres Sanktionsgeschütz aufgefahren (nur um dem Alpenland am Ende eine Art demokratischen Persilschein auszustellen), auch Orbán habe die Europäische Kommission mehrmals gedroht– aber Silvio Berlusconi habe man jahrelang gewähren lassen, obwohl dieser doch ganz klar Medien und Justiz unter seine Fittiche zu bringen versuchte. Kurz gesagt: An kleinen Mitgliedsstaaten würden demokratische Exempel statuiert; große EU-Gründungsstaaten wie Italien könnten sich so viel politisches Bunga Bunga leisten, wie sie wollten.

Diese Einwände– und noch weitere– werden im zweiten Kapitel dieses Buches ausführlich diskutiert. Ich werde zeigen, dass es plausible Grundlagen für eine Rolle Brüssels als Hüter der liberalen Demokratie gibt. Diese Grundlagen lassen sich auf verschiedenen Wegen rechtfertigen, und man muss sich nicht für eine hochspezifische Interpretation der bekanntlich hochkomplexen Europäischen Union– die vom früheren Kommissionspräsidenten Jacques Delors einmal als»unbekanntes politisches Objekt« bezeichnet wurde– entscheiden, um diese Grundlagen zu teilen. Darüber hinaus werde ich eine Reihe von Kriterien dafür entwickeln, wann und unter welchen Umständen demokratieschützende Maßnahmen seitens der Union gerechtfertigt sind. Zum Teil rekapitulieren diese Kriterien nur gutes altes liberales Gedankengut; zum Teil leiten sie sich aber auch direkt aus dem Charakter des unvollendeten politischen Projekts Europa ab.

Im dritten Kapitel kommen wir z

Cover1
Informationen zum Buch / Autor2
Impressum4
Inhalt5
Widmung6
Einleitung: Rechtsstaat auf dem Rückzug – oder: Wer ist der Hüter der Demokratie in Europa?9
I. Neue Herausforderungen an die liberale Demokratie in Europa: Zum Beispiel … Ungarn14
II. Die EU als wehrhafte Demokratie: Vier Einwände36
III. Was alles fehlt: Politische und rechtliche Instrumente49
Schluss: Europäische Demokratie, Eurokrise und die Neuverteilung politischer Autorität65
Anmerkungen71
Danksagung79