Buch eins
1
Mein Onkel Antonin Alexander war ein merkwürdiger Mann. Als ich ihn zum erstenmal sah, war ich zehn Jahre alt und er ungefähr siebzig. Er wohnte in einem häßlichen, riesengroßen Haus im Gooi, das vollgestopft war mit den eigenartigsten, nutzlosesten und scheußlichsten Möbeln. Ich war damals noch sehr klein und kam nicht an die Klingel. Gegen die Tür zu hämmern oder mit der Klappe des Briefkastenschlitzes zu klappern, wie ich es sonst immer machte, traute ich mich hier nicht. Ratlos ging ich schließlich um das Haus herum. Mein Onkel Alexander saß in einem wackligen Sessel aus verblichenem violetten Plüsch mit drei gelblichen Schondeckchen, und er war tatsächlich der merkwürdigste Mann, den ich je gesehen hatte. An jeder Hand trug er zwei Ringe, und erst später, als ich nach sechs Jahren zum zweitenmal zu ihm kam, diesmal um zu bleiben, konnte ich erkennen, daß das Gold Messing war und die roten und grünen Steine (ich habe einen Onkel, der trägt Rubine und Smaragde) buntes Glas.
»Bist du Philip?« fragte er.
»Ja, Onkel«, sagte ich zu der Gestalt im Sessel. Ich sah nur die Hände. Der Kopf lag im Schatten.
»Hast du mir etwas mitgebracht?« fragte die Stimme wieder. Ich hatte nichts mitgebracht und sagte:»Ich glaube nicht, Onkel.«
»Du mußt doch etwas mitbringen.«
Ich glaube nicht, daß ich das damals komisch fand. Wenn jemand kam, mußte er eigentlich etwas mitbringen. Ich stellte mein Köfferchen ab und ging zurück auf die Straße. Im Garten neben dem meines Onkels Alexander hatte ich Rhododendren gesehen, und ich schlich vorsichtig durch die Pforte und schnitt mit meinem Taschenmesser ein paar Blüten ab.
Wieder stand ich vor der Terrasse.
»Ich habe dir Blumen mitgebracht, Onkel«, sagte ich. Er stand auf, und nun sah ich auch sein Gesicht.
»Ich weiß das außerordentlich zu schätzen«, sagte er und verbeugte sich leicht.»Wollen wir ein Fest feiern?« Er wartete meine Antwort nicht ab und zog mich an der Hand ins Haus. Irgendwo knipste er eine kleine Lampe an, so daß das sonderbare Zimmer gelblich erleuchtet wurde. In der Mitte dieses Zimmers standen lauter Stühle– an den Wänden drei Sofas mit vielen weichen Kissen in Beige und Grau. Vor der Wand mit den Terrassentüren stand eine Art Klavier, das, wie ich später erfuhr, ein Cembalo war.
Er wies auf ein Sofa und sagte:»Leg dich hin, nimm dir viele Kissen.« Er selbst legte sich auf ein anderes Sofa, an der Wand mir gegenüber, und dann konnte ich ihn wegen der hohen Rücken der Stühle nicht mehr sehen, die zwischen uns standen.»Wir müssen also ein Fest feiern«, sagte er.»Was machst du gern?«
Ich las gern, und ich sah mir gern Bilder an, aber das kann man auf einem Fest nicht machen, dachte ich, also sagte ich das nicht. Ich dachte kurz nach und sagte dann:»Spätabends mit dem Bus fahren, oder nachts.«
Ich wartete auf Zustimmung, aber die kam nicht.
»Am Wasser sitzen«, sagte ich,»und im Regen herumgehen und manchmal jemanden küssen.«
»Wen?« fragte er.»Niemand, den ich kenne«, sagte ich, aber das stimmte nicht.
Ich hörte, wie er aufstand und zu meinem Sofa kam.
»Wir feiern ein Fest«, sagte er,»als erstes fahren wir mit dem Bus nach Loenen und dann wieder zurück nach Loosdrecht. Dort setzen wir uns ans Wasser, und vielleicht trinken wir etwas. Danach fahren wir mit dem Bus wieder nach Hause. Komm.«
So habe ich meinen Onkel Alexander kennengelernt. Er hatte ein altes, weißliches Gesicht, in dem alle Linien nach unten liefen, eine schöne, dünne Nase und dicke schwarze Augenbrauen wie ein alter, zotteliger Vogel.
Sein Mund war lang und rosig, und meist trug mein Onkel Alexander ein Judenkäppchen, obwohl er kein Jude war. Ich glaube, er war kahl unter dem Käppchen, aber sicher bin ich mir da nicht. An diesem Abend fand das erste richtige Fest statt, das ich je erlebt hatte.
Es waren kaum Leute im Bus, und ich dachte, ein Autobus bei Nacht ist wie eine Insel, auf der man fast allein lebt. Man kann sein eigenes Gesicht in den Fensterscheiben sehen und hört das leise Reden der Leute wie Farben am Geräusch des Motors. Das gelbe Licht der kleinen Lämpchen verwandelt die Dinge drinnen und draußen, und das Nickel ruckelt wegen der Steine auf der Straße. Weil so wenige Leute mitfahren, hält der Bus fast nie, und man kann sich vorstellen, wie er von außen aussehen muß, wenn er den Deich entlangfährt, mit den großen Augen vorn, den gelben Vierecken der Fenster und dem roten Licht hinten.
Mein Onkel Alexander setzte sich nicht neben mich, er ging in eine ganz andere Ecke,»denn sonst ist es kein Fest mehr, wenn man miteinander reden muß«, sagte er. Und das stimmt.
Wenn ich in der Fensterscheibe nach hinten schaute, sah ich ihn. Es war, als schliefe er, aber seine Hände bewegten sichüber das Köfferchen, das er mitgenommen hatte. Ich hätte ihn gern gefragt, was darin war, aber ich dachte, er würde es vielleicht nicht sagen.
In Loosdrecht stiegen wir aus und gingen, bis wir zum Teich kamen.
Dort machte mein Onkel Alexander das Köfferchen auf und nahm ein Stück altes Segeltuch heraus, das er auf das Gras legte, weil es so naß war.
Wir setzten uns mit dem Gesicht zum Mond hin, der grünlich vor uns im Wasser schaukelte, und hörten die Schritte der Kühe auf der Wiese hinter dem Deich. Nebelschwaden und kleine Dunstschleier warenüber dem Wasser und merkwürdige kleine Nachtgeräusche, so daß ich zunächst nicht merkte, daß mein Onkel Alexander wohl leise weinte.
Ich sagte:»Weinst du, Onkel?«
»Nein, ich weine nicht«, sagte mein Onkel, und da war ich mir sicher, daß er weinte, und fragte ihn:»Warum bist du nicht verheiratet?« Aber er sagte:»Ich bin verheiratet. Ich bin mit mir selbst verheiratet.« Und er trank etwas aus einer kleinen, flachen Flasche, die er in seiner Innentasche hatte (Courvoisier stand darauf, was ich damals nicht aussprechen konnte), und fuhr fort:»Ich bin verheiratet. Hast du schon mal etwas von den Metamorphosen des Ovid gehört?«
Davon hatte ich noch nie gehört, aber er sagte, das mache nichts, denn das eine habe mit dem anderen eigentlich auch nicht viel zu tun.
»Ich bin mit mir selbst verheiratet«, sagte er.»Nicht mit mir selbst, wie ich anfangs war, sondern mit einer Erinnerung, die›ich