Am Vormittag des zweiundzwanzigsten ermahnte mich Riemer, bei meinem für halbzwei angesetzten Besuch Goetheseinerseits leise, andererseits doch nicht zu leise mit dem Manne zu sprechen, von welchem jetzt nurmehr noch gesagt wurde, daß er der Größte der Nation und gleichzeitig auch der allergrößte unter allen Deutschen bis heute sei, denn einerseits höre er jetztdas eine geradezu erschreckend deutlich, das andere aber beinaheüberhaupt nicht mehr und man wisse nicht, was er höre und was nicht und obwohl es das Schwierigste sei in der Unterhaltung mit dem auf seinem Sterbebett liegenden, die ganze Zeit mehr oder weniger bewegungslos in die Richtung auf das Fenster schauenden Genius, die angemessene Lautstärke in der eigenen Rede zu finden, sei es doch möglich, vor allem durch die allerhöchste Aufmerksamkeit der Sinne, in dieser nun tatsächlich nurmehr noch traurig machenden Unterhaltung genau jene Mitte zu finden, die dem jetzt für alle sichtbar an seinem Endpunkt angekommenen Geist entspreche. Er, Riemer, habe die letzten drei Tage mehrere Male mit Goethe gesprochen, zweimal in Anwesenheit Kräuters, den Goethe beschworen haben solle, fortwährend und bis zum letzten Augenblick, bei ihm zu bleiben, aber doch einmal allein, weil Kräuter, angeblich infolge einer plötzlichenÜbelkeit durch das Auftreten Riemers in Goethes Zimmer, dieses fluchtartig verlassen habe, wobei Goethe sofort, wie in alten Tagen, mit RiemerüberDas Zweifelnde und das Nichtzweifelnde gesprochen habe, genau wie in den ersten Märztagen, in welchen, so Riemer, Goethe immer wieder auf dieses Thema gekommen sei, immer wieder und immer wieder mit größter Wachsamkeit, nachdem er sich, so Riemer, Ende Feber fast ausschließlich, gleichsam zur tagtäglichen Morgenübung mit Riemer, ohne Kräuter also und also ohne den von Riemer immer wieder alsUngeist bezeichnetenBelauerer des goetheschen Absterbens, mit demTractatus logico-philosophicus beschäftigt undüberhaupt Wittgensteins Denken als dasdem seinigen aufeinmal zunächststehende, wiedas seinige ablösende, bezeichnet hatte; daß dieses seinige gerade da, wo es in die Entscheidung gekommen sei zwischen dem, das Goethe zeitlebens als Hier und dem, das er zeitlebens als Dort einzusehen und anzuerkennen gezwungen gewesen sei, schließlich von dem wittgensteinschen Denkenüberdeckt, wenn nicht garvollkommen zugedeckt hatte werden müssen. Goethe soll sich in diesem Gedanken mit der Zeit so aufgeregt haben, daß er Kräuter beschwor, Wittgenstein kommen zu lassen, diesen, gleich, was es koste, aus England nach Weimar zu holen,unter allen Umständen und so bald als möglich und tatsächlichhätte Kräuter Wittgenstein dazu bringen können, Goethe aufzusuchen, merkwürdigerweise gerade an diesem zweiundzwanzigsten; die Idee, Wittgenstein nach Weimar einzuladen, war Goethe schon Ende Feber gekommen, so Riemer jetzt, und nicht erst Anfang März, wie Kräuter behauptete, und Kräuter sei es gewesen, der von Eckermann in Erfahrung gebracht habe, daß Eckermann unter allen Umständen eine Reise Wittgensteins nach Weimar zu Goethe hatte verhindern wollen; Eckermann habe Goetheüber Wittgenstein derartigUnverschämtes, so Kräuter, vorgetragen, daß Goethe, damals noch im Vollbesitz seiner Kräfte, naturgemäß auch der physischen und tagtäglich noch imstande, in die Stadt hineinzugehen, also durchaus den Frauenplan zu verlassen undüber das schillersche Haus hinaus in die Gegend von Wieland, so Riemer, daß Goethe von Eckermann jedes weitere Wortüber Wittgenstein,den Verehrungswürdigsten, wie sich Goethe wörtlich ausgedrückt haben solle, verbeten habe, Goethe soll zu Eckermann gesagt haben, daß seine Dienste, die er, Eckermann, ihm, Goethe, bisher geleistet habe und zwar allezeit, mit diesem Tage und mit dieser traurigsten aller Stunden der deutschen Philosophiegeschichte, null und nichtig seien, er, Eckermann, habe sich an Goethe durch die Niederträchtigkeit,Wittgenstein ihm gegenüber in Verruf zu bringen, unverzeihlich schuldig gemacht und habe augenblicklich das Zimmer zu verlassen,Das Zimmer soll Goethe gesagt haben, ganz gegen seine Gewohnheit, denn er hatte sein Schlafzimmer immer nurDie Kammer genannt, aufeinmal hatte er, so Riemer, Eckermann das WortZimmer an den Kopf geschleudert und Eckermann sei einen Augenblick völlig wortlos dagestanden, habe kein Wort herausgebracht, so Riemer, und habe Goethe verlassen.Er wollte mir mein Heiligstes nehmen, soll Goethe zu Riemer gesagt haben,er, Eckermann, der mir alles verdankt, dem ich alles gegeben habe und der nichts wäre ohne mich, Riemer. Goethe sei, nachdem Eckermann die Kammer verlassen hatte, selbst nicht befähigt gewesen, ein Wort zu sprechen, er soll immer nur das WortEckermann gesagt haben, tatsächl