: Robert Walser
: Reto Sorg
: Im Bureau Erzählungen
: Insel Verlag
: 9783458759102
: 1
: CHF 8.00
:
: Gegenwartsliteratur (ab 1945)
: German
: 145
: Wasserzeichen/DRM
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB/PDF
Das Gesetz des Büros prägt unser Leben von A bis Z. Als der junge Robert Walser um 1900 zu schreiben anfing, war das noch ganz anders gewesen. Als Auszubildender in einer Bank hatte er das ?Bureau? als etwas irritierend Neues erfahren. Es erscheint als Inbegriff eines fremdbestimmten und sinnentleerten Lebens und bildet zugleich den Ort, an dem die Fantasien und Träume ansetzen, mit denen sich der Dichter die Wirklichkeit aneignet. Wie die Bürokratie-Satiren von Melville, Gogol oder Kafka werfen auch Robert Walsers hier erstmals versammelten Erzählungen über Angestellte ein ebenso erhellendes wie erheiterndes Licht auf das, was uns im Innersten zusammenhält: die Rationalisierung der Arbeitswelt.

<p>Robert Walser wurde am 15. April 1878 in Biel geboren. Er starb am 25. Dezember 1956 auf einem Spaziergang im Schnee. Heute ist Walser durch seine Romane, seine feuilletonistische Prosa, seine Gedichte und seine Dramolette als einer der bedeutendsten Autoren des 20. Jahrhunderts anerkannt. Nach seiner Schulzeit absolvierte er eine Banklehre und arbeitete als Commis in verschiedenen Banken und Versicherungen in Zürich. Seine ersten Gedichte, die 1898 erschienen, ließen ihn rasch zu einem Geheimtip werden und verschafften ihm den Zugang zu literarischen Kreisen. Nach Erscheinen seines ersten Buches<em>Fritz Kochers Aufsätze</em> folgte er 1905 seinem Bruder Karl nach Berlin, der dort als Maler und Bühnenbildner den Durchbruch erzielt hatte. In rascher Folge publizierte Walser nun seine drei Romane<em>Geschwister Tanner</em> (1907),<em>Der Gehülfe</em> (1908) und<em>Jakob von Gunten</em> (1909). Infolge einer psychischen Krise geriet Walser Anfang 1929 gegen seinen Willen in die Psychiatrie, deren Rahmen er nie mehr verlassen konnte. 1933 von der Berner Klinik Waldau nach Herisau verlegt, gab er das Schreiben vollständig auf und lebte dort noch 24 Jahre als vergessener anonymer Patient. Sein Werk erscheint seit 1978 im Suhrkamp Verlag, seit 2018 auch in der neuen kommentierten Berner Ausgabe.</p>

Der Commis


Eine Art Illustration


Der Mond scheint zu uns hinein,
Er sieht mich als armen Commis–?–

 

Obgleich im Leben eine sehr bekannte Erscheinung, ist der Commis doch noch niemals zum Gegenstand einer schriftlichen Erörterung gemacht worden. Meines Wissens wenigstens nicht. Er ist vielleicht zu alltäglich, zu unschuldig, zu wenig blaß und verdorben, zu wenig interessant, der junge schüchterne Mann mit der Schreibfeder und Rechentafel in der Hand, um den Herrn Dichtern als Stoff zu dienen. Mir indessen dient er gerade. Es war mir ein Vergnügen, in seine kleine frische, wenig abgegraste Welt zu schauen, und darin Winkel zu finden, die so schattenhaft heimlich von der sanften Sonne beschienen sind. Gewiß habe ich meine Augen bei diesem schönen Ausflug zu wenig aufgetan, bin an vielen lieblichen Plätzchen vorbeigelaufen, wie es ja geschieht auf Reisen. Aber habe ich nur einiges von dem Vielen aufgezeichnet, so muß zwar das Lesen des Wenigen noch nicht geboten sein, aber es dürfte doch immerhin erfrischend und nicht zu ermüdend wirken. Entschuldige, Leser, daß ich dir vorrede. Aber Vorreden sind nun einmal eine Sucht von lustigen Schriftstellern. Also weshalb eine Ausnahme machen? Leb' wohl und verzeih mir.

Karneval


Ein Commis ist ein Mensch zwischen achtzehn und vierundzwanzig Jahren. Es gibtältere Commis, die aber hier nicht in Betracht fallen. Ein Commis ist in seiner Kleidung wie in seiner Lebensweise ordentlich. Unordentliche fallen außer Betracht.Übrigens gibt es verschwindend wenige von letzterer Sorte. Der rechte Commis legt gewöhnlich keinen reichen Witz an den Tag; er wäre ein mittelmäßiger Commis, wenn er es täte. Ein Commis erlaubt sich in Bezug auf Ausschreitungenäußerst wenig; feuriges Temperament ist in der Regel nicht seine Sache, dagegen besitzt er Fleiß, Takt, Anpassungsgefühl und eine Menge Eigenschaften, die so köstlich sind, daß sie ein so demütiger Mann, wie ich bin, nicht oder kaum zu erwähnen wagt. Ein Commis kann ein sehr herzlicher und herzhafter Mensch sein. Ich kenne einen, der bei einer Feuersbrunst eine hervorragende Rolle im Rettungswesen gespielt hat. Ein Commis ist im Handumdrehen ein Lebensretter, geschweige denn ein Romanheld. Warum werden Commis so spärlich zu Helden in Novellen gemacht? Ein Fehler offenbar, der endlich einmal ernstlich der vaterländischen Literatur unter die Nase gehalten werden muß. In der Politik, sowie in allenöffentlichen Fragen hat der Commis seine gewaltige Tenorstimme wie nichts. Jawohl, wie nichts! Etwas muß besonders hervorgehoben werden: Commis sind reiche, prächtige, ursprüngliche, herrliche Naturen! Reich in jeder Beziehung, prächtig in vielem, ursprünglich in allem und herrlich sowieso. Sein Talent zu schreiben macht leicht einen Schriftsteller aus dem Commis. Ich kenne zwei, drei, deren Traum, Schriftsteller zu werden, bereits in Erfüllung gegangen ist, oder noch gehen wird. Ein Commis ist eher ein treuer Liebhaber als treuer Biertrinker, sonst steinigt mich. Zum Lieben besitzt er eine besondere Neigung, und in jeder Art Galanterie ist er Meister. Ich habe einst ein Fräulein sagen hören, sie möchte lieber mit allem andern, als mit einem Commis eine Heirat schließen. Das hieße nur Elend versorgen. Ich aber sage, dieses Mädchen muß einen schlechten Geschmack und ein noch abscheulicheres Herz gehabt haben. Ein Commis ist in jeder Hinsicht empfehlenswert. So reinen Herzens ist kaum ein Geschöpf unter der Sonne. Besucht ein Commis etwa mit Vorliebe aufwieglerische Versammlungen? Ist er je so liederlich und anmaßend wie ein Künstler, so geizig wie ein Bauer, so protzig wie ein Direktor? Direktor und Commis sind zwei verschiedene Dinge, Welten, so weit voneinander entfernt wie Erde und Sonne. Nein, eines Handelscommis' Gemüt ist so weiß und reinlich wie der Stehkragen, den er anhat, und wer hat schon einen Commis mit anders als tadellosem Stehkragen gesehen? Ich möchte wissen, wer?

Immer noch Verkleidung


Schüchtern kann der Poet sein, der, von der Welt verachtet, sich in seiner einsamen Dachkammer die Manieren, die in der Gesellschaft gelten, abgewöhnt hat, aber ein Commis ist noch viel schüchterner. Wenn er vor seinen Chef tritt, eine zornige Reklamation im Munde, weißen Schaum auf den bebenden Lippen, sieht er da nicht wie die Sanftmut selber aus? Eine Taube könnte ihr Recht nicht milder und sanftmütiger verfechten. Ein Commisüberlegt hundert-, ja tausendmal, was er unternehmen will, und nur, wenn er sich vor eine Entscheidung gestellt sieht, zittert er vor Tatendrang. Dann wehe jedem, der sein Feind ist, wäre es selbst der Herr Direktor! Sonst aber ist ein Commis nie mit seinem Los unzufrieden. Er führt mit Behagen sein stilles Schreibdasein, läßt Welt Welt, und Streitereien Streitereien sein, ist klug und weise, und sieht aus, als ob er sich in sein Schicksal ergäbe. Bei seiner eintönigen und einfarbigen Beschäftigung hat er nicht selten Gelegenheit zu spüren, was es heißt, ein Philosoph sein. Er hat, vermöge seiner ruhigen Natur, das Talent, Gedanken an Gedanken zu reihen, Einfall an Einfall, Blitzidee an Blitzidee, und mit bewundernswerter Gewandtheit koppelt er seine Gedankenkolosse wie einen Güterzug von unabsehbarer Länge zusammen, vorn Dampf, hinten Dampf, und so sollte es nicht vorwärtsgehen?Über Kunst, Literatur, Theater und andere nicht gerade sehr propere Dinge weiß demnach der Commis mit richtigem Urteil, mit vielem Takt und vieler Besonnenheit stundenlang zu reden. Nämlich im Bureau, wenn er glaubt, sich ein bißchen der Allgemeinheit widmen zu sollen. Schießt dann der Chef mit Donner und Hagel hinein, was zum Teufel es da so eifrig zu disputieren gäbe, husch, ist das intelligente, seitenlange Gespräch weg und der Commis wieder er selbst. Das ist sicher, ein Commis istäußerst verwandlungsfähig. Er kann rebellieren und gehorchen, fluchen und beten, sich winden und trotzen, lügen und die Wahrheit sagen, schmeicheln und aufprotzen. In seiner Seele finden die mannigfaltigsten Empfindungen so gut Platz wie in den Seelen anderer Menschen. Er gehorcht gern und widersetzt sich leicht. Für letzteres kann er jedesmal nichts; (Ich wiederhole mich zwar nicht gern, aber:)– denn gibt es etwas Sanfteres, Willigeres, Gerechteres auf Erden als ihn? Für seine Bildung ist der Commis besorgt und wie! Den Wissenschaften, den zeitraubenden Wissenschaften widmet er einen großen Abschnitt seines Lebens, und er würde sich gekränkt fühlen, wollte man leugnen, daß er auch hierin ebenso gut glänze, wie in Dingen seines eigenen Faches. Obgleich Meister in seinem Fach, schämt er sich, es zu zeigen. Diese schöne Gewohnheit führt ihn manchmal sogar so weit, daß er lieber ein Dummkopf als einÜberlegener erscheinen will, was ihm oft unverdiente, vorschnelle Rügen zuzieht. Aber was schadet das einer stolzen Seele!

Gelage


Die Welt und das Wirkungsfeld eines Commis ist das enge, schmächtige, karge, trockene Bureau. Die Werkzeuge, mit denen er meißelt und schafft, sind Feder, Bleistift, Rotstift, Blaustift, Lineal und allerhand Zinstabellen, die sich einer näheren Beschreibung gerne entziehen. Die Feder eines rechtschaffenen Commis ist meist recht spitz, scharf und grausam. Die Schrift ist meist sauber, nicht ohne Schwung, ja, sogar manchmal zu schwungvoll. Beim Ansetzen der Feder zaudert ein tüchtiger Commis einige Augenblicke, wie um sich gehörig zu sammeln, oder wie um zu zielen wie ein kundiger Jäger. Dann schießt er los, und wieüber ein pa

Inhalt8
Im Bureau10
Der Commis11
Eine Art Illustration11
Karneval12
Immer noch Verkleidung13
Gelage15
Ein neuer Gesellschafter17
Stumme Minuten18
Ein Brief zum Besten20
Lebendes Bild22
Traum23
Erklärung25
Ein Vormittag27
Das Büebli35
Der Gehülfe41
Germer50
Helblings Geschichte56
Der arme Mann72
Poetenleben76
Helbling87
Der Sekretär92
Der junge Dichter95
Erich98
Acht Uhr102
Die Bühne ist ein Büro102
105102
Herren und Angestellte117
Aus dem Leben eines Commis121
Das Krankhafte125
Die Verkäuferin126
Lebenslauf126
128126
»Er gehorcht gern und widersetzt sich leicht.« Zur Figur des Angestellten bei Robert Walser130
Geburtshelfer der Moderne130
Vom Schreiber zum Schriftsteller135
Helden im Büro137
Textnachweise und Anmerkungen144