Jean-Arthur Rimbaud
Zum 100. Geburtstag
Verehrte Versammlung,
es heißt, wirehren die Dichter nur, wenn sie tot sind, wenn der Gruftdeckel oder der nasse Erdhaufen die endgültige Trennung zwischen ihm und uns herbeigeführt hat, wenn der Schöpfer lyrischer Gedichte in Not und Elend erstickt ist, wenn er, wie es so schön und peinlich in den Nachrufen minderwertiger Geister heißt,seinen Geist aufgegeben hat. Dann findet sich schon, so es Gott will, ein verstaatlichtes Büro, das im Adreßbuch zu blättern beginnt, und das Werk der Nachwelt nimmt seinen Lauf. Es gibt Kränze und»Kränzchen«, und es entwickelt sich ein amüsantes Geschäft zwischen Weinlokal und Ministerium, solange, bis entweder der Akt des Dichters wieder verschwindet, oder man sich zur Herausgabe seines Werkes entschlossen hat. Es gibt Feiern und Pomp, man entdeckt das Pensum des Toten, zerrt es ans Licht– man»veranstaltet« den Dichter–, meist nur, um sich selbst die Langeweile zu vertreiben, für die man schließlich bezahlt wird. Und ist es nicht so (bei uns!), daß nicht der Dichter geehrt wird, sondern der Herr vom Kulturamt, der die Begrüßung vornimmt, der Herr Gedichte-Verwalter, der Schauspieler, der Rezitator? So mancher Hölderlin oder Georg Trakl würde sich im Grabe umdrehenüber soviel gemachte, aufgepfropfte Kultur,über soviel Kunstmarktgerede, von dem nichts herauskommt als Schamlosigkeit!
Es geht darum, an Jean-Arthur Rimbaud zu erinnern. Gott sei Dank, daß er ein Franzose war! Glauben wir also an die Kraft und die Herrlichkeit des dichterischen Wortes, glauben wir an das fortdauernde Leben des Geistes, an die Unverwüstlichkeit der Bilder (der Totenbilder und der Visionen), wie sie auftauchen zwischen den Blättern von ein paar großen Männern aus den Elementen, wie sie ein Jahrhundert nur ein- oder zweimal hervorbringt. Täuschen wir uns nicht, das Gewaltige, Erregende, Aufwühlende und Beruhigende, das Bleibende, wächst nicht wie der Sauerampfer auf der Sommerwiese! So ein bedeutender Vers, dem der Mensch den Blick in die Tiefe verdankt, kommt nicht alle Tage zustande, nicht jedes Jahr. Es müssen immer etliche Tausend Bücher herausgestampft werden, ehe die Maschine einmal einen solch elementaren Ruck macht, und uns ein, wenn auch nur ein bedeutendes Werk der Weltliteratur liefert. Die immer so an der großen Glocke hängen und tönen bis in die versoffenen Bierstuben, die Zeitschriftendichter und die Exportartikler der Literatur, die es auch zuweilen zum Nobelpreis bringen, sind zumeist nur auffrisiertes Gewäsch und Modefabrikation. In der Literatur kommt es nur auf das Ursprüngliche an, eben auf das Elementare, auf Leute wie Jean Arthur Rimbaud.
Der Dichter Frankreichs war ein wirkliches Element, seine Verse waren aus Fleisch und Blut. Hundert Jahre sind nichts für diesen Meister des Wortes, den unübersetzbaren Rimbaud. Er riß das Leben an sich, unkonventionell, mit der Wurzel, packte es zugleich voll Ehrfurcht und Todessüchtigkeit. Seine Dichtung ist abgeschlossen, mit dreiundzwanzig Jahren klappte er sein Buch zu, sein»Trunkenes Schiff«, seine»Erleuchtungen«, seine»Saison in der Hölle«. Nie mehr rührte er die Feder an, um zu dichten, der Ekel vor der Literatur hatte ihn erfaßt. Aber er war fertig, es war genug.»Absurde! Ridicule! Dégoûtant!«– so wehrte Rimbaud ab, wenn man von seinen Versen mit Bewunderung sprach, und versuchte, ihn der Literatur in Frankreich zurückzugewinnen.?
Rimbaud wurde am 20. Oktober 1854 in Charleville geboren. Sein Vater war Offizier, die Mutter eine Frau wie jede andere, bedacht auf das Wohl des Knaben, aber in dem Augenblick mißtrauisch und zurückgezogen, als es in ihm zu gären beginnt, als er mit neun Jahren seine ersten Verse heimbringt von der Schule, seine ersten»Essays«, seine Visionen, seine ersten Dichtungen, die zu den besten Frankreichs zählen. Im Juli 1870 bekommt er einen ersten Preis für die meisterhaften lateinischen Verse, in die er»Sancho Pansas Ansprache an seinen Esel« umgearbeitet hatte. Noch während des Studiums schreibt er für ein Ardennenblatt und greift Napoleon und Bismarck mit gleicher Heftigkeit an. Um die Armut der Menschen zu sehenund zu leiden, wandert er zu Fuß nach Paris, taucht unter in der Menscheneinöde und der Menschenfurcht, und er wirft sich den Gequälten und Nichtshabenden zwischen den einzelnen Boulevards an die Brust. In dieser Zeit sollen seine Haare so lang gewesen sein wie eine Pferdemähne, ein Vorübergehender bot ihm vier Sous an für den Friseur, die er, der»Dichter aus Charleville«, in Tabak anlegt. Dann ist er Zeuge der Revolution in der Babylon-Kaserne, in dem dichten Gemisch der Rassen und Klassen, und feurig ruft er es aus:»Arbeiter will ich sein! Kämpfer!«– Nach achttägigem Kampf erstürmen die Regierungstruppen die Hauptstadt, die gefangenen Revolutionäre, seine Freunde und Genossen, verbluten. Er selbst, der die erste große Erschütterung seines Lebens hinter sich hat, kann wie durch ein Wunder entweichen. Aber in Charleville war er nicht mehr zuhause.
Rimbaud war Märtyrer und»Sozialer«, aber niemals Politiker. Er hatte nichts mit der Politik, der Kunstbefremdung, zu tun und gemein. Er war nichts weniger als ein Mensch, und als solcher rührte ihn die Vergewaltigung des Geistes auf. In Charleville setzte er sich hin und schrieb die feurigen Gedichte»Das trunkene Schiff«– obwohl er das Meer noch nicht kannte–, schrieb»Paris bevölkert sich wieder«, die Orgie, die Anklage gegen das Geschwulst des Hasses, das Gedicht des Pariser Menschenlasters, alles in ihm war Empörung, und wenn er den Fluß entlangging,»brauchte er Stunden, um sich innerlich zu beruhigen«. Er war siebzehn Jahre alt, als er das wunderbare Versgebilde»Die Armen in der Kirche« niederschrieb, mit»klopfendem Herzen, ganz bei den schmutzigen Kindern, die immer auf die hölzernen Engel schauen und dahinter den Gott vermuten ...« Rimbaud war Kommunist, ja, aber nicht der, der auf den Champs-Elysées die Paläste anzünden wollte, sondern ein Kommunist des Geistes, ein Kommunist seiner Lyrik und seiner bildhaften Prosa.
Als er Verlaine, dem einzigen lebenden Dichter Frankreichs, den er verehrte, seine Verse schickt, antwortet ihm dieser mit dem klassisch gewordenen Satz:»Venez, chère grandeâme!«– Und wie erstaunt ist der»Dichter von Paris«, der in den rauchgeschwängerten Salons wie ein Gott aus und ein ging, als er, anstatt einen»würdigen« Mann, den siebzehnjährigen zerlumpten Jean vor der Wohnungstür findet. Dieser hatte die»Sensation«, das große brennende Gedicht, hinter sich. Ja, das waren Zeiten!
Mit Verlaine begann für Rimbaud eine neue Epoche, es war eine tief freundschaftliche und zutiefst menschliche, und sie waren mitsammen nach England gereist, um London kennenzulernen, die stinkige Luft des größten Hafens der Welt, Mittelengland mit seinen schwarzen Fabriken, waren nach Brüssel gekommen, um sich– auf Zeit!– zu trennen. Verlaine mußte»heim« zu seiner Familie, die er, ohne»Rücksicht«, wie es heißt, eines Morgens verlassen hatte. Wie verschieden waren die beiden Landstreicher, denen es gegönnt war, ohne Paß durch Europa zu streifen, ohne alles, der Flüchtige, immer ausbrechende Rimbaud, vorwärts getrieben von der monumentalen neuen Wirklichkeit, die»es zu verdauen gab in der Prosa«, und der weiche, ihm ganz verfallene Verlaine, der dem Katholizismus, der Rettung, zustrebte, der ihm die tiefen Dichtungen verdankt, die geheiligten Lieder des ruhenden Menschen, die der geschlagene Mann im Gefängnis niederschreibt, nachdem er den jungen Bruder aus Charleville im Streit angeschossen und schwer verletzt hatte. Verlaine war für Rimbaud der große Dichter, aber weich und süchtig, Rimbaud dagegen hatte sich in Verlaine zum»alleinigen Lebensreichtum außer Jesus Christus« geformt. Man darf es nicht falsch verstehen: Verlaine liebte die poetische Kraft seines»Bruders« und das wunderbar klare Gesicht Arthurs, nicht mehr.
Das Leben der Dichter gehört nicht auf die Straße geschleppt, aber Rimbauds Leben ist so gewaltig, so groß, so abgründig und doch so religiös, wie das Leben eines Heiligen. Er steht vor uns wie seine Dichtung: abscheulich, wahrhaft, schön und von Gott!
Er war in Deutschland Hauslehrer bei einem Stuttgarter Doktor Wagner, streifte durch Belgien und nach Holland. Er ließ sich für die Kolonialtruppen anwerben und erreichte nach siebenwöchigerÜberfahrt Java. Aber es war ihm mit dem Militärdienst genauso wenig ernst wie einstmals mit dem Gedanken,»Missionar zu werden, um die Welt zu sehen«. Als er in Niederländisch-Indien an Land ging, schien es, als hätte er sein Ziel erreicht: unerreichbar der abscheulichen Zivilisation zu sein! Er machte sich davon, ging nach Batavia, lebte vom Handgeld, schlug sich durch die neue Landschaft, lebte mit Tieren und Halbidioten zusammen, betrat 1876 ein englisches Schiff, um heimzukehren. Er war für eine Zeit müde geworden. Als man an der Insel Helena vorbeikam, verlangte er, daß man anhalte. Da man seinem Wunsche nicht nachkam, sprang er einfach ins Meer, um hinüberzuschwimmen. Mit knapper Not konnte er, der unbedingt Napoleons Lager habe sehen wollen, wieder an Bord gebracht werden. Genau am 31. Dezember war er wieder in Charleville.
Er war zeitlebens ein Abenteurer, und die Hälfte seines Daseins war er unterwegs. Er hatte sich längst von der Literatur abgewandt, und er schrieb nicht mehr:
»Im Straßenschotter hatt ich meine Schuh zerschnitten,?
acht Tage lang. In Charleroi macht ich halt.?
Im›Grünen Cabaret‹ begehrt ich Butterschnitten?
und Schinken, der beinah zur...