: Annika Scheffel
: Bevor alles verschwindet
: Suhrkamp
: 9783518731635
: 2
: CHF 13.00
:
: Gegenwartsliteratur (ab 1945)
: German
: 411
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB

J la, Jules und die anderen haben es sich über die Jahre bequem gemacht in dem kleinen Ort unten im Tal. Doch eines Tages gerät ihre abgeschiedene Welt in Gefahr. In den umliegenden Wäldern werden »die Verantwortlichen« gesichtet, Gelbhelme mit Bauplänen für ein Erholungsgebiet. Eine Umsiedlung des Ortes steht bevor. Mit allem, was sie haben, lehnen die Bewohner sich auf gegen das Urteil. Aber Widerstand fordert Zusammenhalt, und ein jeder muss zuerst die eigenen Gespenster zähmen oder sie jetzt, im Kampf gegen das Verschwinden, endlich und für alle Zeit freilassen.

ist ein Roman wie ein Funkenschlag. Eine Geschichte von dunklen Geheimnissen und letzten Hoffnungen, dabei ebenso tragisch wie absurd komisch.



<p>Annika Scheffel, 1983 in Hannover geboren, ist Prosa- und Drehbuchautorin. Für ihre Arbeiten wurde sie mehrfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Phantastik-Preis der Stadt Wetzlar 2013 und dem Robert Gernhardt Preis 2015. Sie lebt mit ihrer Familie in Berlin.</p>

Robert
Fünf Monate


»Papa?«

»Nein.«

»Papa?«

»Nahein.«

»Papa!«

»Was?«

»Schon gut.«

Robertöffnet die Augen, trügerisch knallt ihm das Licht hinein und gibt sich als Frühling aus, und dann ist es nicht einmal die größenwahnsinnige Februarsonne, sondern die Nachttischlampe, die Marie ihm direkt ins Gesicht hält. Man sollte dem Kind verbieten, Dokumentarfilme zu gucken. Mit den Armen wedelt er durch die Luft, er will die Lampe beiseiteschieben, schafft das auch, fast ein wenig zu gut gelingt es ihm, und die Lampe fällt auf den Boden.

»Papa?«

»Was, Marie?!«

»Das war dumm.«

Einmal Flieger also mit dem Kind, einmal warme Decke weg, Beine in die Luft, anwinkeln, Kinderbauch drauf, Arme greifen, Beine hoch, Kind fliegt, Kind schreit, Knie knackt, Kind lacht. Beine runter. Fertig. Nein, doch nicht, das Kind brüllt»Noch mal!«, also alles auf Anfang, schon lange automatisch, was nicht heißt, dass es ihm keinen Spaß macht und er nicht ganz dabei ist. Robert ist unter anderem ganz dabei, denn nebenbei ist er still und heimlich erschöpft und einer von denen, die mit Sorge auf alles, was gerade geschieht, reagieren: Die Bagger, die Birnen, die Baustelle da draußen.

»Papa?« Jetzt hat er doch glatt sein fliegendes Kind in der Luft vergessen. Marie blickt ihn von oben herab skeptisch an. Robert kommt der Verdacht, Marie könnte in der Lage sein, Gedanken zu lesen.»Bitte runterfahren«, sagt Marie sachlich, und er gehorcht sofort. Sie legt sich neben ihn und zieht die Deckeüber sie beide.

»Was machst du eigentlich noch hier?«, fragt Robert, stützt sich auf und begutachtet sein Wunderwerk von Tochter.

»Ich bin krank«, sagt Marie.

»Das glaube ich dir nicht.« Marie grinst.

»Mama schon, und die istÄrztin.« Robert gähnt.

»Stimmt.«

»Ich könnte heute mitkommen zum Proben«, sagt Marie, und das ist wahrscheinlich ihr Plan: die perfekte Inszenierung der bemitleidenswerten Kranken und dann Robert bei den Proben beraten. Sie wird vorher auch noch einen Kakao verlangen, und Robert wird ihn ihr machen, auch wenn Clara nichts von Zucker am Morgen hält.»Kakao?«, fragt Marie und springt aus dem Bett, auf die Lampe, brüllt einmal kurz»Au!« und läuft dann aus dem Zimmer, um die Milch aus dem Kühlschrank zu nehmen. Robert ist fasziniert. Auf dem Boden neben dem Bett liegt der zertretene Lampenschirm, aber die Glühbirne ist merkwürdigerweise noch heil; was für ein Glück, das muss einfach ein guter Tag werden.

 

Auf dem Hauptplatz hat sich eine GruppeÜbriggebliebener versammelt, schweigend observiert sie das klobige Etwas, das die Verantwortlichen soeben aus dem Transporter gewuchtet haben. Einer der Männer, nicht Monas Mann, von dem fehlt jede Spur, positioniert sich neben dem mit weinrotem Stoff verhängten Ding. Ohne seinen dunkelblauen Anzug würde der Verantwortliche sich kaum von der Umgebung abheben, gräulich und stumpf ist seine Haut, genau wie der müde Winterboden. Auffällig ist allein seine wild gemusterte Krawatte. Jemand muss ihn gezwungen haben, sie umzubinden, der Mann sieht nicht aus, als habe er Humor.

»Das ist ein großer Moment«, sagt der Verantwortliche. Jeremias runzelt in Elenis Richtung die Stirn, seine Frau hat ihre mehligen Arme vor der Brust verschränkt, skeptisch und angriffslustig.»Das Modell!«, ruft der Verantwortliche und zieht schwungvoll die Abdeckung zur Seite. Der Stoff fliegt erst Mona, dann Greta, dann Jules ins Gesicht. Der Verantwortliche schaut ohne Unterlass und höchst begeistert auf dieÜberraschung, er merkt nicht, wie die drei sich die Augen wischen.

»Ein schlafendes Schneewittchen«, flüstert Greta, sobald sie wieder klar sehen kann, und Jules zuckt zusammen. Schneewittchen, das war bisher immer Jula. Aber Greta hat recht: Vor ihnen ruht ein bildschöner Weltuntergang im Glassarg.

Aber warum, womit haben sie diesen Anblick verdient? Vielleicht als Strafe für das Verschmieren der Schrägstriche und Nummern? Für ihre mangelnde Begeisterung für die schöne neue Welt, die sie bald von oben bestaunen können? Wahrscheinlich aber steht das Modell einfach deshalb auf dem Hauptplatz, weil der große Plan es so vorsieht. Das alles hat nichts mit ihnen und ihrem Verhalten zu tun, sie machen nichts schlecht und nichts gut, sie sind nur ein kleiner Teil der Welt, die verschwinden soll.

Da steht unscheinbar und in Grau auf der einen Seite der Istzustand, nur ohne Menschen, mit Tal, Ort und Traufe, und auf der anderen Seite befinden sich, nur durch eine Glasscheibe getrennt von der profanen Normalität: der See und eine weitere Verantwortliche, die Mauer.

Auf das kristallklar gemalte Wasser hat jemand zehn kleine und größere Boote und Fähren gesetzt, auf dem See und um ihn herum spielt sich ein paradiesisches Leben ab. In sehr offensichtlich sorgfältig unregelmäßig inszenierten Abständen sind rund um den See sechs Figuren mit hauchdünnen Angeln positioniert. Vier von ihnen haben neben sich kleine Eimer stehen, darin Fische bis zum Rand.

»Woher kommen die Fische?«, fragt Marie und drückt die Nase gegen die Scheibe.

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