: Peter Sloterdijk
: Zeilen und Tage Notizen 2008-2011
: Suhrkamp
: 9783518798409
: Datierte Notizen
: 2
: CHF 14.00
:
: Briefe, Tagebücher
: German
: 639
: Wasserzeichen/DRM
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB/PDF
Über vier Jahrzehnte hinweg widmete sich Peter Sloterdijk Morgen für Morgen einem Tagebuch besonderen Typs: In linierten DIN A4 Heften hielt er handschriftlich fest, was ihm am vergangenen Tag aufgefallen war und was ihm bevorstand. Eine Veröffentlichung der Notate zog er nicht in Betracht. 'Datierte Notizen' entstanden durch dieses Schreiben-für-sich-selbst, eine melancholisch-fröhliche Zeitgenossenschaft zeigt sich in ihnen die Denktagebuch, intellektuelle Komödie und gesellschaftliche Tragödie auf einzigartige Weise miteinander verknüpfen. Peter Sloterdijk schrieb in den wie um ihrer selbst geführten Tagebüchern mit und gegen die Ereignisse, richtete seine Aufmerksamkeit auf die großen Zusammenhänge und die versteckten Details; zur frühen Stunde entstanden außergewöhnliche Kurzessays und ironische Aphorismen, bissige Kommentare und zurückhaltende Lobgesänge. Ende des Jahres 2011 entschloß sich der Tagebuchschreiber, seine Notizen öffentlich zu machen: Er nahm sich Heft 100 aus dem Jahre 2008 vor und transkribierte seine Niederschriften, Zeilen und Tage, bis zum Ende des Jahres 2010.

<p>Peter Sloterdijk wurde am 26. Juni 1947 als Sohn einer Deutschen und eines Niederländers geboren. Von 1968 bis 1974 studierte er in München und an der Universität Hamburg Philosophie, Geschichte und Germanistik. 1971 erstellte Sloterdijk seine Magisterarbeit mit dem Titel<em>Strukturalismu als poetische Hermeneutik</em>. In den Jahren 1972/73 folgten ein Essay über Michel Foucaults strukturale Theorie der Geschichte sowie eine Studie mit dem Titel<em>Die Ökonomie der Sprachspiele. Zur Kritik der linguistischen Gegenstandskonstitution</e >. Im Jahre 1976 wurde Peter Sloterdijk von Professor Klaus Briegleb zum Thema<em> Literatur und Organisation von Lebenserfahrung. Gattungstheorie und Gattungsgeschichte der Autobiographie der Weimarer Republik 1918-1933</em> promoviert. Zwischen 1978 und 1980 hielt sich Sloterdijk im Ashram von Bhagwan Shree Rajneesh (später Osho) im indischen Pune auf. Seit den 1980er Jahren arbeitet Sloterdijk als freier Schriftsteller. Das 1983 im Suhrkamp Verlag publizierte Buch<em>Kritik der zynischen Vernunft</em> zählt zu den meistverkauften philosophischen Büchern des 20. Jahrhunderts. 1987 legte er seinen ersten Roman<em>Der Zauberbaum</em> vor. Sloterdijk ist emeritierter Professor für Philosophie und Ästhetik der Staatlichen Hochschule für Gestaltung in Karlsruhe und war in Nachfolge von Heinrich Klotz von 2001 bis 2015 deren Rektor.</p>

Heft 101


21. September 2008– 11. Februar 2009

21. September Wolfsburg


Bei den Vorbereitungen zur Quartett-Sendungüber das Thema»Ist die Welt noch zu retten?« (wie wir nur diese Formulierung durchgehen lassen konnten?) mit Harald Welzer und Franz Josef Radermacher stoße ich auf einen Hinweis, wonach der Ausdruck»Weltinnenpolitik« von zwei Heidegger-Schülern stammt: Georg Picht verwendet ihn zuerst in dem BuchBedingungen des Friedens, 1964, Carl Friedrich von Weizsäcker greift ihn auf, um eine allgemeine Theorie der Pazifizierung auf ihn zu gründen.

Philippe Bordas:»le grand art est celui du vent«: Der Dichter soll eine Brise werden, nur die Leichtigkeit zählt.

(Aus:Les forcenés, vom Leben der Velomanen)

28. September, Frankfurt


Nun kommt es also zu dem Festakt im Casino der Universität– im ehemaligen IG-Farben-Gebäude– anläßlich derÜbergabe des Siegfried Unseld-Preises 2008 an Bruno Latour. Die Szene spielt vor einem Publikum, das auf den ersten Blick wie tout Francfort aussieht, doch auf den zweiten zeigt sich, daß viele fehlen, die zu einem Anlaß dieses Ranges zu erwarten gewesen wären. Die ungünstige Plazierung des Termins vor Semesterbeginn fällt dabei ins Gewicht, vor allem aber die Tatsache, daß der Preis von der breitenÖffentlichkeit noch gar nicht wahrgenommen wurde.

Vergleiche machen unglücklich, aber sie drängen sich auf: Wenn ich dagegenhalte, daß bei der Verleihung des»Cicero«-Preises im Juni im alten Bundestag von Bonn 650 Personen anwesend waren, beim Leipziger Mendelssohn-Preis im März fast 2000 begeisterte Besucher im vollbesetzten Gewandhaus, erscheint die Frankfurter Szene dürftig. Die Laudatio entrollte sich in voller Länge, wobei sich zeigte, daß sie für die Proportionen des Festakts viel zu pompös geraten war, wenn sie auch eine intensive Physiognomie des Laureatus lieferte und eine Vorstellung von den Gewichten gab, die in seinem Werk bewegt werden.

Auszug aus der Festrede:Ein Philosoph im Exil– oder: Der Mann, der die Wissenschaften liebt.

»Immerhin kam Bruno Latour meinem Wunsch nach Mithilfe bei der Besorgung biographischer Informationen auf eine andere Weise entgegen. Er fügte seiner Antwort ein Foto bei, auf dem man seine Eltern in ihren jüngeren Tagen sah, und zwar bei der zermürbenden Tätigkeit, die man die Hochzeitsreise nennt. Das Bild wurde, wie es in der begleitenden Information hieß, im Jahr 1930 aufgenommen. Die beiden eleganten jungen Menschen, die in die Kamera lächeln, lehnen sich an eine steinerne Balustrade vor der Silhouette einer Stadt an einem südlichen Gewässer. Wenn man weiß, daß die Szene in Bellagio spielt, dann weiß man auch, daß die Wasserfläche hinter ihnen der Comer See ist.

Zwei Dinge waren es, die mich an diesem Bild sofort frappierten. Es war zum einen die Jahreszahl, die mir fast unglaublich vorkam: Man fragt Bruno Latour im Spätsommer 2008 nach seinen Eltern und bekommt ein Bild zu sehen, das schonin illo tempore zu datieren ist, in die verlorene Zeit zwischen den Kriegen: Man geht nur eine Generation rückwärts und findet sich in der Welt von gestern wieder, zu der man in anderen Familien alleinüber einen zusätzlichen Generationenschritt zurückgelangt.

Zum anderen sprang mir die Kleidung dieser glänzenden jungen Leute ins Auge– Latoursenior trägt einen eleganten Anzug mit Weste–über die Farbe erlaubt das Schwarz-Weiß-Foto keine Aussage, außer daß es keine Abendfarbe ist. Irgend etwas sagt mir, daß dieses Outfit nicht nur ein Zugeständnis an die Erfordernisse einervoyage de noce darstellt, sondern einen Habitus reflektiert, der tiefer in die Person eingedrungen war. Der gutaussehende junge Mann, der durch seine Hornbrille gesammelt und leise spöttisch in die Kamera schaut, hat bereits die Luft der Moderne geatmet, soweit sie sich bis in das nördliche Rhônetal zu verbreiten vermochte. Er steht vor dem Geländer am See neben seiner Braut mit jener Lässigkeit, für die man in Englands besseren Kreisen die Formeltheeasy conscience of effortless superiority anbietet. Einen Augenblick lang kommt es mir vor, als sähe ich den großen Gatsby von Dijon. Die Art, wie er sich an das Geländer zurücklehnt, drückt aus, es komme für ihn nicht in Frage, vor einer Kamera gerade zu stehen. Was ihn von dem amerikanischen Gatsby unterscheidet, ist die Entschlossenheit, bei aller Modernität der Tradition zu geben, was der Tradition gebührt– und dazu gibt es offensichtlich kein besseres Mittel als die Ehe. Wie könne man deren Anfänge besser unterstreichen als durch einelune-de-miel-Woche in Italien?

Der Soziologe Latour dürfte hierzu den Grundsatz assoziieren, daß die Konvention die engste Komplizin des Ausnahmezustands ist– einen Satz, den die Anarchisten des 19. und 20. Jahrhunderts bedauerlicherweise zu spät oder nie begriffen. Während aber der amerikanische Dandy im Nichts verschwindet, entschlossen zu einem Dasein ohne Nachkommen, weiß dieser junge Mann, was es heißt, in einerÜberlieferung zu leben. Ich habeüber das Haus Latour ein wenig recherchiert und herausgefunden, daß man dort Grund für Selbstbewußtsein hat. Wer zu einem Clan gehört, der 1797 an der Côte d’Or mit dem Weinbau begann– das ist das Jahr, in dem Napoleon den Gipfel seiner Erfolge im Italienfeldzug erklomm– und dieses Geschäft heute in der zehnten Generation betreibt, der kann nicht gut mit gesenktem Kopf durch die Welt laufen.

Was die lächelnde junge Dame angeht, die später Bruno Latours Mutter sein wird, so erfüllt auch sie den eleganten Imperativ vollkommen. Sie gibt die Muse des burgundischen Gatsby an ihrer Seite mit jener Natürlichkeit, die man nur durch ein langes Training erwirbt, allenfalls könnte man an der Art, wie sie in die Kamera blickt, eine gewisse Unerfahrenheit ablesen. Sie gibt sich keine Mühe, ihr bestes Kameragesicht zu machen, statt dessen strahlt sie eine naive Herzlichkeit aus, die einer heiteren Braut am besten steht. Imübrigen ist auch sie, was ihr Kleid angeht, kein Kind der Bürgerzeit mehr, geschweige denn eines desancien régime. Ganz offenkundig ist sie vom frischen Wind der Moderne erfaßt. Im Berlin der frühen Dreißiger hätte man dieses locker hängende Gebilde als todschick bezeichnet. Es wäre reizvoll, s