: Christoph Hein
: Vor der Zeit Korrekturen
: Insel Verlag
: 9783458730491
: 1
: CHF 11.00
:
: Gegenwartsliteratur (ab 1945)
: German
: 189
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Der Romancier Christoph Hein, der unbestechliche Chronist der Gegenwart, wendet sich in diesem Erzählungswerk den Mythen, den Göttern, den Erzählungen von den Taten und Untaten der Alten Welt zu. Dabei entdeckt er Hochspannendes: Kleine Korrekturen an den für unveränderlich geltenden Berichten über die Taten und Niederlagen der Götter und Titanen können deren Leistungen in ihr Gegenteil verkehren. Alles hätte auch ganz anders vonstattengehen können: Sieger würden zu Verlierern werden, gute Absichten sich in ihr Gegenteil verkehren, völlig neue Bedeutungen sich herauskristallisieren. Die neuen Erzählungen von Christoph Hein zielen also auch ins Herz der Gegenwart: Der Gang der Ereignisse lässt sich durch kleine Modifikationen in völlig andere Richtungen lenken. Und auch die Vergangenheit, als Fixpunkt der Gegenwart, verändert durch diese Neuerzählungen ihr Gesicht.

<p>Christoph Hein wurde am 8. April 1944 in Heinzendorf/Schlesien geboren. Nach Kriegsende zog die Familie nach Bad Düben bei Leipzig, wo Hein aufwuchs. Ab 1967 studierte er an der Universität Leipzig Philosophie und Logik und schloss sein Studium 1971 an der Humboldt Universität Berlin ab. Von 1974 bis 1979 arbeitete Hein als Hausautor an der Volksbühne Berlin. Der Durchbruch gelang ihm 1982/83 mit seiner Novelle<em>Der fremde Freund / Drachenblut</em>.<br /> Hein wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, u.a. mit dem Uwe-Johnson-Preis und Stefan-Heym-Preis. Seine Romane sind<em>Spiegel</em& t;-Bestseller.</p>

Das Paradies der Paradiese


Am 20. Dezember 1894 gegen neun Uhr morgens stand Frank Calvert auf dem Waffendeck einer kleinen rumänischen Militärfregatte und erblickte die ersehnte Insel. Als vor ihm der weiße Felsen von Leuke aus dem Meer stieg, er dieüberhängenden Klippen und die aufsteigenden Schwärme weißer Vögel sah, glaubte er den Gipfel seines Lebens und seiner Forschungen erreicht zu haben. In wenigen Minuten würde er Leuke betreten und bald darauf einer erstaunenden Welt mitteilen können, er habe jenen Ort gefunden, der schöner und glücklicher sei als das gepriesene Elysium.

Er wandte sich an die zwei Offiziere, die neben ihm standen. Er fragte sie, ob dies Serpilor sei, Insula Serpilor, die Schlangeninsel. Die beiden, die bislang kein Wort mit ihm gewechselt hatten, bestätigten es mit einem knappen Nicken des Kopfes.

Frank Calvert hatte wenige Monate zuvor seinen sechsundsechzigsten Geburtstag in Washington gefeiert, wo er als britischer Konsul residierte. Sein Leben lang waren er und seine Brüder Frederick und James neben ihren geschäftlichen Tätigkeiten im diplomatischen Dienst, doch ebenso lange hatte Frank Calvert als Archäologe gearbeitet, als Amateurarchäologe, wie seine Brüder anzumerken beliebten. Seit seinem vierzehnten Lebensjahr war er davonüberzeugt, dass die Bücher des Homer keine Dichtungen seien, sondern zwar ausgeschmückte, doch wahrheitsgemäße Berichteüber die hellenische Frühzeit. Troja, so seine unumstößliche Ansicht, hat existiert und folglich müssen Reste der umkämpften, sagenhaften Stadt und ihrer Mauer aufzufinden sein.

Er war neunzehn Jahre alt, als er seinen Bruder Fredericküberreden konnte, ein Gut bei Akca Köy zu erwerben, das Teile des Hügels Hisarlik einschloss, unter dem er die sagenhafte Stadt Troja vermutete. Aufmerksam verfolgte er die Bemühungen der anderen Amateurarchäologen bei ihrer Suche nach Troja und korrespondierte mit ihnen, mit Robert Wood und Jean Baptiste LeChevalier, mit Graf Choiseul-Gouffier und Charles Maclaren. Er bemühte sich vergeblich, den gesamten Hügel von der türkischen Regierung zu erwerben, und machte auf dem Besitz der Familie erste Probegrabungen. Das British Museum bat er, ihn dabei finanziell zu unterstützen, was man ihm, dem Dilettanten, jedoch abschlug.

Er war vierzig Jahre alt, als er in der Troas einen Deutschen namens Schliemann traf. Heinrich Schliemann war ein Kaufmann, der in St. Petersburg und in Sacramento im Goldhandel tätig war, mit Kolonialwaren und Munitionsrohstoffen sein Geld verdient hatte und zum vielfachen Millionär geworden war. Er interessierte sich ebenfalls für das antike Troja, war nach Ithaka und Korfu gereist und hatte auch in der Troas graben lassen. Da seine fünf Arbeiter nach einer Woche keinerlei Funde vorweisen konnten, brach er die Grabungen ab und wollte nach Europa zurückkehren. Seinem Bericht zufolge hatte er das Schiff verpasst und zufällig Frank Calvert getroffen, mit dem ihn eine gemeinsame Leidenschaft verband. Die Gespräche mit dem vom antiken Troja begeisterten Calvert erregten die Fantasie des Deutschen. Er entschloss sich, nicht abzureisen, sondern von der türkischen Regierung die Lizenz für Grabungen in jenem Teil des Hisarlikhügels zu erwerben, der nicht Calvert gehörte.

Schliemann begann umgehend mit der Arbeit. Er forderte weitere Hilfskräfte an, und das Glück begünstigte ihn. Er konnte das Skäische Stadttor von Troja ausheben lassen, den Triglyphenfries des Athenatempels und die breite Straße zum Königspalast. Er grub eine umfangreiche Sammlung von Artefakten aus und schließlich auch den Schatz des Priamos.

Schliemann galt seitdem als Wiederentdecker Trojas und wurde weltweit hoch geehrt. An Calverts Verdienste und Forschungen, ohne die seine Ausgrabungen undenkbar waren, erinnerte der Deutsche nur mit zwei schmallippigen Fußnoten.

Calvert verweifelte. Er gab seine Forschungen vorübergehend auf und wurde britischer Konsul und Botschafter in Nordamerika. Er fühlte sich von dem Deutschen um sein Lebenswerk betrogen.

Die alte Leidenschaft für die Archäologie war jedoch nicht für immer erloschen. Vier Jahre nach dem Tod von Schliemann machte sich Calvert daran, die mythische Insel Leuke zu entdecken, von der die Autoren der Antike berichten, sie sei noch schöner als die Elysischen Gefilde und die Glücklichen Inseln, sie sei voll wilder und zahmer Tiere und die Götter selbst und die Heroen wandeln des Nachts durch Leukes Wälder und erinnern sich der ruhmreichen Kämpfe, wobei sie die Gesänge des Homer zitieren.

Calvert warüberzeugt, dass Leuke eine irdische Insel ist, zu genau waren die Beschreibungen der Landschaft, die Angaben zur Größe und zum Klima. Er studierte die alten Texte, entzifferte Pergamente und Buchrollen und schließlich glaubte er, die Insel entdeckt zu haben. Das kleine Eiland, 600 Meter im Durchmesser, gehörte mittlerweile zu Rumänien, lag zwölf Meilen vor der Küste und bestand nur aus einem weißen Felsen.

Er brach nach Rumänien auf, um Leuke zu sehen, die die