Kriegsausbruch
06.04.1992
In Sarajevo hat der Krieg begonnen.
Das Leben in B. ist nicht einfach. Es gibt keine Löhne mehr. Die Schlange vor dem Roten Kreuz wird immer länger.
aus dem Tagebuch der Mutter
Von einem Tag auf den anderen begannen sie, auf uns zu schießen. Warum? Weil ich Leila hieß? Niemand kapierte das! Als der Krieg ausbrach, war ich sechzehn. Innerhalb weniger Monate wurde ich mit einem Schlag erwachsen. Seit in Sarajevo die Kämpfe eingesetzt hatten, versammelten wir uns bei Oma und Opa im Wohnzimmer, hörten Nachrichten im Radio und hockten vor dem Fernseher. Die Zusammenhänge waren mir schleierhaft. Was hätte ein junges Mädchen auch von all dem verstehen sollen? Abends beim Essen diskutierten wir darüber, ob es auch bei uns Krieg geben würde. Wir waren alle große Optimisten und der Ansicht: »Nie im Leben.« Nur mein Opa, der alte Kriegsveteran, schüttelte traurig den Kopf und behauptete: »Wartet ab! Uns wird es auch noch treffen.«
Eines Morgens weckte mich ein fernes Donnern. »Gleich wird’s regnen«, nahm ich an. Da mein Magen knurrte, zog ich mir was über und wollte runter zum Frühstücken gehen. Als ich durch den Korridor lief, sah ich meine Großmutter, die schluchzend am Fenster saß. »Oma, was hast du?« fragte ich sie. »Guck doch mal, Leila, der Krieg hat begonnen«, antwortete sie und zeigte aus dem Fenster. Es rauchte und grollte am Stadtrand. Ich weinte, weil meine Oma weinte. Bisher kannte ich den Krieg nur aus dem Geschichtsunterricht und aus schlechten Action-Filmen wie »Rambo«. Niemand konnte diesen Irrsinn begreifen, bevor er ihn nicht selber erlebt hatte.
31.05.1992
In der Nähe von B. finden die ersten Zusammenstöße zwischen der HVO1 und den Serben statt. Heute waren die Sirenen zweimal zu hören. Bei den Serben starben drei Männer und bei der HVO einer.
aus dem Tagebuch der Mutter
Sobald das Telefon frei war, stürzte ich hin und rief bei Mama an. Mit großem Ernst erklärte sie mir, daß in Sarajevo die Situation sehr kritisch wäre. Dann weinte sie und ermahnte mich, daß ich auf Oma und Opa hören sollte. »Mach dir keine Sorgen, bald ist alles wieder vorbei. Ich komme, so schnell es geht«, sprach sie mir Mut zu. Mit der Bombardierung der großen Nachbarstadt Biha setzte aber auch für uns der Krieg ein.
Die Tür wurde aufgerissen, und Tante Mirsa aus Biha stürmte in den Flur. Sie war völlig aufgelöst. Opa versuchte, sie zu beruhigen und drängte gleichzeitig ungeduldig: »Erzähl, was passiert ist.« Tante Mirsas Haare waren zerzaust. Sie stöhnte: »Eine Granate ist neben unser Haus gefallen.« Von der gewaltigen Druckwelle wären alle auf den Boden gerissen worden. Unter den umgestürzten Möbeln und Trümmern hätten sie ihre dreijährige Tochter