Von der Seltenheit des Trostes
Gefunden werden wie ein Vogel im Gebüsch.
Noch Federn, wäre schön.
Dass man sieht:
Das konnte einmal fliegen.
Martin Walser:Messmers Momente
Man mag es nicht so recht glauben, und es widerstrebt einem, aber selbst auf Friedhöfen wird schamlos gelogen. Da gibt es Gräber, auf denen größer noch als der Name des Verstorbenen das Versprechen in Stein gehauen ist:Die Liebe höret nimmer auf. Oder:Das Leben geht, die Liebe bleibt. Derlei sollte einen zur Vorsicht mahnen, denn häufig sind dies Gräber, die ungepflegt wirken und derenÄußeres krass dem widerspricht, was da in großen Lettern beschworen wird. Auch weiß man von Grabreden, die nicht Nachrufe waren, sondern Nachreden derübelsten Sorte, geschickt verborgen hinter allerlei gleisnerischer Rhetorik. Und viele der an diesem Ort vergossenen Tränen waren Krokodilstränen.
Auf meinen Spaziergängenüber den Friedhof fiel mir ein Grab auf, das auf besondere Weise vernachlässigt war und mit seinem längst verrotteten Gesteck ein Bild des Erbarmens bot. Der halbhohe Grabstein immerhin aus Marmor war an den Ecken abgebröckelt und wirkte trotz seiner Glätte, die ihm offenbar auch Wind und Wetter nicht nehmen konnten, armselig. Das Grab hatte keine Einfassung, es lag wie ein schmales, ausgebleichtes Handtuch in der zweiten Reihe und drückte sich auf seiner linken Seite sowie mit dem Rücken wie Schutz suchend an eine Hecke. Das alles war umso bemerkenswerter, als die gut lesbare Inschrift auf dem Stein einen Namen verriet, den man mit allem anderen, nur nicht mit einem verkommenen Grab in Verbindung bringen mochte:
Rose Marie Gräfin zu Roche
* 1873–† 1955
Meine Friedhofswanderungen habe ich, den Schatten alter Bäume sowie Stille und Nachdenklichkeit suchend, im Hochsommer aufgenommen. Rasch fand ich, wonach ich mich sehnte, und gewöhnte mir bald eine feste tägliche Route an, die mich von Anfang an wie zwangsläufig an jenem vernachlässigten gräflichen Grab vorbeiführte. Zunächst schenkte ich ihm keine weitere Beachtung, denn solcherart vergessene Tote gibt es viele, doch irgendwann einmal muss ich wohl vor dem Stein stehen geblieben sein und seine Inschrift gelesen haben. Bald war der kaum noch erkennbare kleine Erdhügel vom herbstlichen Laub bedeckt, und es dauerte nicht lange, bis der erste Schnee den gesamten Friedhof in eine schier feierliche Stille versetzte. Auch das Vergessen schien unter der Schneedecke zu verschwinden. Und da sich der Winter ausnehmend lange hinzog und es auch nicht bedeutend wärmer wurde, sodass der Schnee hätte schmelzen können, unterschieden sich die gepflegten und die vernachlässigten Gräber in nichts, denn beide deckte dieselbe weiße Pracht. Lediglich die Spuren einiger Vögel, Krähen zumeist, und die Tapser von Eichhörnchen, die irgendwo ihre Nüsse vergraben hatten, ergaben bisweilen ein eigenartig verspieltes Muster, das mich auf meinen Spaziergängen, die ich auch bei schlechtestem Wetter nicht unterließ, ein wenig nachdenklich stimmte, glichen diese eigenartigen Zeichen im frischen Schnee doch einer geheimnisvollen Schrift, deren Bedeutung ebenso rätselhaft war wie ihr Verlauf. Wo war der Anfang dieser Botschaften, wo ihr Ende? Und vor allem: Wem galten sie? Man hätte meinen können, die Toten schrieben sich gegenseitig Briefe auf dem Schnee oder richteten Nachrichten an die Lebenden, die von diesen jedoch nicht entziffert werden konnten.
Ich weiß nicht, ob jener alte Mann, den ich eines Tages ebenfallsüber den Friedhof streichen sah und mit den Krähen sprechen hörte, als sei er auf der Suche nach einem bestimmten Grab,ähnliche Gedanken hatte. Er schien mir schon von Weitem, als ich ihn erblickte, in Grübeleien verstrickt, er ging gebückt, sodass sich sein Blick auf den schmalen Weg beschränkte, und die Sprache seines alten, von einem dicken Wintermantel beschwerten Körpers drückte nicht nur Niedergeschlagenheit aus, sondern auch tiefe Nachdenklichkeit. Näher kam ich ihm nicht, denn er bog in die eine Richtung ab, während es mich in die entgegengesetzte zog.
Es mochte eine Woche oder mehr vergangen sein, als ich den alten Mann wiedersah. Diesmal streute er Vogelfutter aus einer Tüte und war sogleich von Krähen umschwärmt, die sich mit lautem Krächzen darauf stürzten. Und als ich nach wenigen Tagen Zeuge des gleichen Schauspiels wurde, beschloss ich, mich dem alten Mann zu nähern, um ihn mir ein wenig genauer anzusehen. Doch als hätte er es geahnt, hielt er augenblicklich mit dem Vogelfüttern inne, steckte die Tüte in die Tasche und ging, so zügig es sein Alter zuließ, seines Weges, sodass es mir nicht mehr möglich war, ihm wie zufällig nahe zu kommen. Zu offensichtlich wäre meine Absicht geworden, und es wäre mir peinlich gewesen, den Eindruck zu erwecken, als verfolge ich einen harmlosen alten Mann, der auf dem winterlichen Friedhof Krähen füttert. Ich entschied mich, für die nächsten Wochen eine leicht geänderte Route zu wählen, und sah den Herrn bisweilen nur noch aus großer Entfernung um die Gräber streichen. Doch auch von weit weg erweckte er den Eindruck, als sei er auf der Suche nach einem ganz bestimmten Grab. Dann verschwand der alte Mann eines Tages von der Bildfläche, und ich sah ihn wochenlang nicht mehr. In Anbetracht der skandinavischen Kaltfront, die das Landüber einen Monat fest im Griff hatte, war dies auch weiter nicht verwunderlich.
Er tauchte erst wieder auf,