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Ivenack
Das Gebäude sieht verwahrlost aus. So, als hätten es die letzten Bewohner schon vor Jahren erleichtert verlassen. Schmale Gänge führen zu kleinen stickigen Zellen mit winzigen Fenstern. Verliese. Enge und Düsternis legen sich beklemmend auf die Brust und verursachen Atemnot. Ada stellt sich an eins der winzigen niedrigen Fenster und rüttelt an dem Griff. Erfolglos.
Draußen zieht ein Adler seine Kreiseüber dem weiten, hügeligen Land. Auf der Suche nach Beute, jederzeit bereit, herabzustoßen. Die Landschaft glüht in der Sonne, verschwenderisch leuchten gelbe Blüten, dunkelrote Erde. Ada ahnt den Duft. Der Kontrast von draußen und drinnen hätte nicht stärker sein können. Sie starrt auf die halb verfallene Wand gegenüber, auf die teilweise zugemauerten oder vergitterten Fenster.
Das erste Mal fällt ihr ein. Wie sie vor Jahren hierher kam und fasziniert war. Fremd war sie, das sagte ihr jeder Blick aus den Augen der Einheimischen, und doch fühlte sie sich, als wäre sie angekommen. Wie an einem Platz, den sie schon lange gesucht hatte. Unten am silbrig glänzenden Wasser hatte sie auf die Geräusche der Tiere gelauscht, glucksend tauchten sie auf, rumorten irgendwo in den Wäldern, die endlos waren.
Hier geht die Zeit anders. Vergeht zwar, aberändert nichts. Man improvisiert. Passt sich den Gegebenheiten an. Hofft auf ein Wunder oder begräbt seine Hoffnung, lebt von einem Tag auf den anderen.Überlebt wie in Trance. Manche suchen Rat bei den Alten, die wissen, was geschehen wird. Dieses Singen in der Luft, sind das nicht die Mythen und Sagen dieses weltvergessenen Landstrichs, gewispert von Ahnen oder Geistern? Und dann dieser Himmel. Einüberwältigender Himmel, der hier einfach weiter ist als anderswo. Blau, unendlich, in Bann schlagend. Der mecklenburgische Himmel.
Ada reißt sich von ihren Gedanken los,öffnet eine der niedrigen Türen. Wirft die Tür wieder zu. Holt tief Luft undöffnet sie langsam wieder.
Harte Musik knallt ihr entgegen. Grateful Dead? Eine unglaublich fette Alte, das rote Spitzennachthemdüber dem riesigen Busen bedrohlich gespannt, hält ein hauchdünnes Teetässchen mit abgespreiztem kleinem Finger in der einen Pranke. Sie lächelt Ada an und winkt sie mit der anderen herein. Die herabhängenden Wülste an den Oberarmen schlackern wie Wackelpudding. Den großen roten Kopf zieren nur noch wenige graue Strähnchen. Grelle Abziehbilder, Püppchen und Pilze, Mickey Mouse und Märchenfiguren, Rennautos, Pin-up-Girls und Muskelmänner bedecken jeden Flecken der schrägen Wände des winzigen Kämmerchens.
»Willst du einen Keks, Schätzchen?«, kreischt sie durch den Gitarrenlärm und zeigt auf einen Teller mit durchbrochenem Rand, auf dem sechs kleine Gebäckstücke im Kreis angeordnet liegen. Ada will.
Dann sucht sie höflich dankend das Weite. Sie sieht sich schnell um und wirft den Keks mit schlechtem Gewissen in einen Blecheimer am Ende des Flurs.
Wandert weiter. Plötzlich führen die bedrückenden Flure zu prunkvollen, stuckverzierten Treppenhäusern. Sie kommt in lichtdurchflutete Hallen, in weite Räume mit verglasten Erkern zum See hin. In einem lang gestreckten Saal blicken von holzgetäfelten Wänden halb vermoderte Hirschköpfe verwundert auf sie hinab.
Ada betrachtet bunte Bilder, hingepfuschte Landschaftsaquarelle, dieüber uralten Wandmalereien an unbekümmert hineingedroschenen riesigen Nägeln hängen.
»Was suchen Sie denn hier?« Eine merkwürdige Stimme hinter ihr.
»Ich arbeite.«
»So?« Hohn trieft mit einem dünnen Speichelfaden aus den abwärts gerichteten Mundwinkeln.»Können Sie sich ausweisen?«
»Ich bin Fotografin und mache Aufnahmen von dem Schloss. Ich dachte, das Behindertenheim wäre schon umgezogen. Aber oben sind die Zimmer ja noch bewohnt!«
»Nu, ein paar von denen sind halt noch da. Wüsste wirklich nicht, was Sie das angeht. Werden Sie fertig mit Ihrer Knipserei und stören Sie hier nicht länger!«
Das lange, birnenförmige Wesen, vermutlich männlich, mit hängenden Schultern und ebensolchem Bauch schlurft davon. Die Arme baumeln an ihm herab, als sei derenübliche Funktion in Vergessenheit geraten. Wirr steht gelbes Kraushaar vom Kopf ab.
Das Licht ist einmalig. Sie fotografiert die Hirschköpfe an der Wand, sonnengelbe Räume, ein Funkeln im zersplitterten Kronleuchter. Dann den Essraum: Sprelakattische auf Linoleum– entsprechend sind die Ausdünstungen, gemischt mit dem Gestank nach abgestandenem Kantinenessen, der in den Wänden hängt. In der Tür zittert hin und wieder ein birnenförmiger Schatten.
Sie geht weiter durch leere Zimmer.Über einhundert Räume sind durch schmale Gänge in geradezu aberwitziger Anordnung verbunden, dazu verwirren oft schräge Wände. Als sie auf die andere Schlossseite gelangt, erinnern sie deren niedrige Decken daran, dass diese Hälfte ein Stockwerk mehr besitzt als die gegenüberliegende. Das Schloss ist unkonventionell durch Einzug einer Zwischendecke um viele Zimmer erweitert worden. Sie ist schon eine ganze Weile keiner Menschenseele mehr begegnet. Steigt weiter nach oben. Plötzlich ist sie sicher, nie wieder herauszufinden. Da gellen schrille Pfiffe durch die leeren Räume.
Marder. Sie steigt die Treppe ganz hinauf ins riesige Dachgebälk. In der sommerlichen Wärme duftet das Holz, feucht, alt und anheimelnd.
Der Dachboden ist angefüllt mit Koffern. Es müssen tausen